Titel: Bericht des Hrn. Lamé über eine Abhandlung Clapeyron's, betreffend die Regulirung der Dampfschieber an Locomotiven und die Anwendung der Absperrung.
Fundstelle: Band 92, Jahrgang 1844, Nr. LXXXIII., S. 324
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LXXXIII. Bericht des Hrn. Lamé uͤber eine Abhandlung Clapeyron's, betreffend die Regulirung der Dampfschieber an Locomotiven und die Anwendung der Absperrung. Aus den Comptes rendus, Febr. 1844. Nr. 8. Clapeyron, über Regulirung der Dampfschieber an Locomotiven. Bei jeder Dampfmaschine macht eine der Kolbenseiten während eines vollen Spieles, oder einer vollständigen Umdrehung des Schwungrades vier besondere Perioden durch, deren relative Dauer einen wesentlichen Einfluß auf die übertragene Kraft hat. Während der ersten Periode communicirt die Kolbenseite mit dem Dampf im Kessel, welcher den Kolben in der Richtung seines Druks vorwärts schiebt. Später wird die Communication mit dem Kessel unterbrochen; der zwischen dem Kolben und Vertheilungsapparat eingeschlossene Dampf wirkt durch Absperrung oder Expansion; dieß ist die zweite Periode. Die dritte beginnt in dem Augenblik, wo dem Dampf der Austritt in den Condensator oder in die freie Luft gestattet wird, und sie endigt in dem Augenblik, wo diese Communication unterbrochen wird; der Kolben ist während derselben auf seinem Rükwege. Die vierte Periode endlich erstrekt sich von dem Augenblik, wo die Verbindung mit dem Condensator aufgehoben, bis zu demjenigen, wo die Verbindung mit dem Kessel wieder hergestellt wird; während dieser Periode bleibt der Dampf, welcher anfangs den Druk im Condensator hat, zwischen dem Kolben und dem Vertheilungsapparat eingeschlossen und kann auch bis auf einen gewissen Grad comprimirt werden. Wir wollen der Kürze wegen diese vier Perioden: Einströmungs-, Absperrungs-, Entweichungs- oder Auslassungs, und Compressionsperiode nennen. Wenn man durch eine gerade Linie, die man als Abscissenachse betrachtet, den vom Kolben beschriebenen Weg repräsentirt, auf ihr Ordinaten errichtet und dieselben so lang macht, wie es der sowohl beim Hin- als Zurükgange gegen den Kolben ausgeübte Druk angibt, so beschreiben die Endpunkte dieser Ordinaten eine in sich zurükkehrende Curve oder ein geschlossenes Polygon, dessen Flächenraum der vom Dampf übertragenen Kraft entspricht. Die beste Regulirung des Dampfschiebers oder die beste Vertheilung des Dampfs muß also dann bewerkstelligt worden seyn, wenn der fragliche Flächenraum für dieselbe Dampfmenge, welche der Kessel liefert, ein möglichst großer wird. Diesen Zwek suchte Hr. Clapeyron durch zahlreiche theoretische und praktische Untersuchungen (besonders mit Locomotiven) zu erreichen, wozu er als Oberingenieur bei den Eisenbahnen von Paris nach St. Germain und nach Versailles (rechtes Ufer) Gelegenheit hatte. Vor 8–10 Jahren gab man noch der obern und untern Wandfläche der Dampfschieber an den Locomotiven eine Breite oder Dike, welche genau der lichten Weite des (nach dem obern oder unteren Cylinderende führenden) Dampfweges entsprach. War der Kolben am Ende seines Weges, so war der Schieber in der Mitte des seinigen angelangt und die Endflächen des lezteren bedekten genau die Dampfwege. Die Einströmungsperiode dauerte bei dieser Einrichtung so lange als der Kolben direct vorgeschoben wurde; die Absperrungsperiode war Null geworden; die Auslassungsperiode dauerte so lange als der Kolben sich zurükbewegte; die Compressionsperiode endlich war Null. Das geschlossene Polygon, dessen Flächenraum die übertragene Kraft repräsentirt, ist in diesem Falle ein Rechtek, dessen horizontale Seiten der Länge des Kolbenweges und dessen senkrechte Seiten der Differenz zwischen der anfänglichen Spannung des Dampfs und dem Druk im Condensator oder der freien Luft entsprechen. Die Praktiker hatten aber schon längst bemerkt, daß die Locomotiven mehr Kraft entwikeln und weniger Brennmaterial erheischen, wenn man die Bewegung des Dampfschiebers, ohne an seiner Einrichtung etwas zu ändern, so anordnet, daß derselbe etwas früher im Mittelpunkt seiner Bewegung anlangt, als der Dampfkolben den höchsten oder tiefsten Stand erreicht; man nannte dieß das Voreilen des Dampfschiebers (lavance du tiroir) und es wurden in dieser Art eingerichtete Locomotiven zuerst im Jahr 1837 für die St. Germain-Eisenbahn aus England bezogen. Die Vortheile dieser Einrichtung wußte man sich wohl zu erklären; durch das Voreilen des Dampfschiebers wird der Einfluß des Gegendruks vermindert, welcher bei der Regulirung ohne Voreilen während der ganzen Zeit statt findet, die von der Oeffnung des Dampfweges angefangen bis zu dem Augenblik verstreicht, wo der abziehende Dampf nur noch die Spannung der Atmosphäre oder des Condensators hat. Dem nachtheiligen Umstand, daß frischer Dampf auf der anderen Seite des Kolbens wirken kann, bevor lezterer über den todten Punkt gegangen ist, begegnete man dadurch, daß man die Endflächen des Dampfschiebers auf der äußeren Seite um einige Millimeter breiter machte, damit die Einströmungsöffnung noch verdekt blieb. Das Voreilen des Dampfschiebers ist schon in der ersten Ausgabe von Pambour's Werk über die Locomotiven erwähnt; später theilten Flachat und Pétiet in ihrem Guide du Mécanicien (1840) ausführliche Untersuchungen über diesen Gegenstand mit. Leztere empfehlen die Locomotiven so zu reguliren, daß der Dampf einen Augenblik früher zuströmt, als der Kolben den todten Punkt überschritten hat, und demselben den Austritt zu gestatten, wenn der Krummzapfen noch 25° bis zum todten Punkt zu durchlaufen hat; der Dampf strömt dann nur während 0,87 des Kolbenlaufes zu. Die genannten Ingenieurs haben die auf solche Weise erzielbare Ersparniß nach ziemlich wahrscheinlichen Voraussezungen berechnet. Bis dahin blieb man bei der Idee stehen, den Dampf in die Atmosphäre oder in den Condensator austreten zu lassen, bevor der Kolben am Ende seines Laufes angelangt ist, was man durch Vergrößerung der Auflagerungsfläche des Schiebers zu erreichen suchte; die expansionsweise Wirkung des Dampfs durch frühzeitigere Absperrung, welche man nebenbei erzielte, erkannte erst Clapeyron als ein wichtiges Hülfsmittel, um ohne weitere Aenderung der gewöhnlichen Dampfsteuerung dem Dampfe eine viel größere Wirkung abzugewinnen. Wir wollen nun zur Betrachtung der oben erwähnten vier Perioden zurükkehren. Es ist klar, daß die Zuströmungsperiode in dem Augenblik beginnt, wo der Kolben im Umkehren begriffen ist, und endigt, wenn so viel Dampf eingetreten ist, als nach der Verdampfungsfähigkeit des Kessels auf ein halbes Spiel kommt. Die Absperrungs- oder Expansionsperiode scheint auf den ersten Blik so weit ausgedehnt werden zu müssen, bis die Spannung des sich expandirenden Dampfes dem Druk der Atmosphäre gleich ist; zwei Umstände erheischen jedoch eine Abkürzung dieser Periode: erstens kann man dem Dampfcylinder keine übermäßigen Dimensionen geben und zweitens muß bei den Locomotiven der in die Luft austretende Dampf noch eine gewisse Spannung haben, um schnell genug zu entweichen und dadurch zur Verstärkung des Zugs im Kamin beizutragen; wegen dieser Beschränkungen muß die zweite Periode so lange dauern, als es noch möglich ist. Die dritte Periode, nämlich die der Dampfauslassung, muß beendigt seyn, sobald der Kolben am Ende seines Weges angelangt ist; um die Cylindergröße zu vermindern, thut man jedoch gut, dieser Bedingung nicht vollständig zu genügen. Die vierte oder Compressionsperiode endet natürlich, sobald der Kolben am Ende seines vollen Laufes angelangt ist. Den angegebenen Bedingungen kann allerdings durch einen besonderen Mechanismus für veränderliche Expansion, deren man bereits mehrere kennt, leicht entsprochen werden; durch dieselben wird aber die Locomotive noch complicirter, während gerade bei ihr die größte Einfachheit noch wünschenswerther ist als bei jeder anderen Dampfmaschine. Deßhalb bemühte sich Hr. Clapeyron den angeführten Bedingungen bloß mittelst des Dampfschiebers zu entsprechen, ohne irgend einen neuen Mechanismus beizufügen. Um vier Bedingungen zu genügen bedarf man auch vier veränderlicher Größen; liefert diese aber der Dampfschieber? Denken wir uns denselben in der Mitte seines Weges, so stehen seine Endflächen über den Oeffnungen der Dampfwege und bedeken dieselben; ragen nun die Endflächen wie gewöhnlich auf beiden Seiten über diese Dampfwege vor, so nennt man die Vorragung nach der Seite des einströmenden Dampfes zu die äußere Bedekung (recouvrement extérieur), die nach der Seite des Condensators zu die innere Bedekung (recouvrement intérieur). Außer diesen beiden veränderlichen Größen haben wir aber bei dem Dampfschieber nur noch eine dritte, nämlich die Lage der excentrischen Scheibe gegen den Krummzapfen. Von den vier zu erfüllenden Bedingungen muß matt daher eine opfern, weßhalb die Frage entsteht, welche drei Bedingungen den größten Einfluß auf den vortheilhaftesten Gang der Maschine haben; die Untersuchung derselben ist der Hauptgegenstand von Clapeyron's Abhandlung, worin er folgende praktische Resultate mittheilt. Bei der Locomotive Creuzot, mit welcher die ersten Versuche im Jahr 1840 angestellt wurden, brachte man die äußere Bedekung bis auf 0,03 Met. oder ein Viertel des Laufes (des Dampfschiebers), die innere bis auf 0,018 Met.; der Winkel zwischen der Achse des Krummzapfens und derjenigen der excentrischen Scheibe betrug 55°. Bei dieser Einrichtung hört die Periode der Dampfeinströmung bei 0,7 des Kolbenlaufes auf. Die Absperrungsperiode endigt bei 0,96, wo dann der Krummzapfen einen Winkel von 19° mit der dem todten Punkte entsprechenden Lage macht. Die Periode der Dampfauslassung dauert bis der Kolben 0,79 seines Rüklaufes erreicht hat. Hier beginnt dann die Compressionsperiode, welche in dem Augenblik endet, wo die Communication mit dem Kessel sich wieder öffnet und der Krummzapfen noch einen Winkel von 6° bis zum todten Punkte zu durchlaufen hat. Hr. Clapeyron ist der Meinung, daß der Dampf, welcher vorher die Spannung des Condensators hatte, während der vierten Periode comprimirt werden kann, ohne flüssig zu werden, nämlich wegen der hohen Temperatur, welche die Wände des Cylinders der Locomotiven beibehalten müssen, was er durch Versuche mit Watt's Indicator bestätigt fand. Man sollte glauben daß diese Compression des Dampfes einen Kraftverlust herbeiführen müsse; dieß ist aber nur dann der Fall, wenn der comprimirte Dampf eine höhere Spannung erreicht, als derjenige im Kessel; so lange diese Gränze nicht überschritten, sondern bloß erreicht ist, wird der einströmende Dampf den Dampfweg und überhaupt den ganzen schädlichen Raum schon mit Dampf von der erforderlichen Dichtigkeit angefüllt finden, so daß der sonst durch den schädlichen Raum bewirkte Dampfverlust vermieden wird. Der günstige Erfolg mit der Locomotive Creuzot veranlaßte Hrn. Clapeyron bei anderen Locomotiven die Expansion noch weiter zu treiben; man schließt bei denselben jezt den Dampfzutritt schon bei 0,65 des Kolbenlaufes ab. Auf den Eisenbahnen von St. Germain und Versailles (rechtes Ufer) sind bereits dreizehn nach dieser Theorie abgeänderte Locomotiven in Gebrauch; bei sieben derselben wurde der Durchmesser der Cylinder von 13 auf 15 Zoll, bei sechs von 11 auf 13 Zoll vergrößert. Bei allen stieg der Nuzeffect um 40–50 Proc. Der Verbrauch an Brennmaterial wurde vermindert, was jedoch zum Theil anderen Ursachen zuzuschreiben ist. Das von Clapeyron erfundene System der unveränderlichen Expansion (détente fixe) ist seit zwei Jahren in den meisten Werkstätten eingeführt worden, wo man Locomotiven construirt oder ausbessert. Watt kannte schon vor dem Jahre 1805 die Vortheile, welche durch gehörige Regulirung der Schieber erzielt werden; es hatte sich in dieser Hinsicht in seinen Werkstätten eine Praxis gebildet, welche nach ihm auch seine Schüler in ihren Maschinenbauanstalten als Geheimniß bewahrten. Erst im Jahr 1836 erkannten französische Marine-Ingenieurs bei der Prüfung der englischen Maschinen, welche für die Staatsdampfboote geliefert wurden, die Vortheile der bei denselben eingerichteten Dampfvertheilung; einer von ihnen, Reech, studirte sie genau und schrieb darüber eine schäzbare Abhandlung, welche nächstens veröffentlicht werden wird. Seit dem Jahr 1840 verfielen die englischen Eisenbahningenieurs auf eine Regulirung der Locomotivenschieber, welche mit der Clapeyron'schen viel Aehnlichkeit hat, aber in mehreren wesentlichen Punkten davon abweicht.