Titel: Ueber den in Europa eingeführten und mit den Blättern der gewöhnlichen Eiche gefütterten, bengalischen Tussah-Seidenwurm; von Hrn. F. E. Guérin-Mèneville.
Fundstelle: Band 138, Jahrgang 1855, Nr. XCIX., S. 386
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XCIX. Ueber den in Europa eingeführten und mit den Blättern der gewöhnlichen Eiche gefütterten, bengalischen Tussah-Seidenwurm; von Hrn. F. E. Guérin-Mèneville. Aus den Comptes rendus, October 1855, Nr. 14. Guérin-Mèneville, über den Tussah-Seidenwurm. In der Sitzung am 23. Juli d. J. zeigte ich der (französischen) Akademie der Wissenschaften die ersten lebenden Schmetterlinge des indischen Seidenwurms, welcher die Tussah-Seide gibt. Seitdem gelang es mir nach Besiegung vieler Schwierigkeiten, und nach mehr als vierzig vergeblichen Versuchen, die Befruchtung von zwei weiblichen Schmetterlingen zu erzielen, wodurch ich mehrere Hundert Eier und dann Raupen erhielt, die ich mit Eichenblättern aufziehe und wovon ich einige Exemplare hiemit vorlege. Dieser Tussah-Seidenwurm ist die Raupe des Bombyx mylitta Fabric. (Paphia Linn.), welche sich in allen Gegenden Bengalens bis zu dem Himalaya-Gebirge hinauf findet. Zu industriellen Zwecken wird er hauptsächlich im gebirgigen Theil Bengalens gezogen. Schon längst war die Einführung einer so vorzüglichen Race mein sehnlicher Wunsch. Daß ich mich gegenwärtig in den Stand gesetzt sehe, Acclimatisirungs-Versuche in Frankreich mit demselben anzustellen, verdanke ich der Sorgfalt des Directors des botanischen Gartens zu Pondichery, Hrn. Perrotet, und der Unterstützung der Acclimatisirungs-Gesellschaft. Die Eier des ersten befruchteten Weibchens sind am 15. August ausgekrochen. Ich trug die jungen Räupchen sogleich zu dem Aufseher der Reptilien-Menagerie am Museum, Hrn. Vallée, welcher mit Genehmigung des Hrn. Duméril so gütig gewesen war, den Seidenwürmern des Wunderbaums, einigen Proben der von Hrn. v. Montigny ihm übergebenen Eier des gewöhnlichen Seidenwurms, von letzterm aus China bezogen, und noch andern Arten seine Sorgfalt zu widmen. Im Museum aber war wegen des hohen Festtags (Napoleonstag) alles verschlossen, daher ich außer Stande war, in den besondern Gärten die indischen Gewächse aufzusuchen, wovon sich diese Seidenwürmer ernähren, und ich beschränkte mich darauf, meinen Räupchen zarte Zweigchen verschiedener Bäume und Pflanzen vorzulegen, nämlich der Esche, des Pflaumenbaums, der Eiche, des Jasmins, des Orangenbaums, der Weide, des Brustbeerbaums, des Wunderbaums, der Myrthe, der Cichorie, des Lattichs etc. Außerdem nahm ich noch Eichenblätter, in der Hoffnung, daß die Raupen eines dem Bombyx des Eichenbaums (B. S. pernyi, Guer.) so nahen Lepidopters sich zu denselben bequemen würden, und mein Einfall war auch ein glücklicher, denn die Tussah-Seidenwürmer haben sich mit dieser Nahrung bestens entwickelt. Ich habe alle Zustände dieser Seidenwürmer genau beschrieben und gezeichnet, vom Zustande des Eies an bis zum letzten Lebensalter der Raupe. Im Wesentlichen geht aus meinen Beobachtungen hervor, daß die junge Raupe, wenn sie aus dem Ei kommt, zu ihrer ersten Mahlzeit die Schale eben dieses Eies verwendet; sie ist zu dieser Zeit schön orangegelb, mit kurzen schwarzen Streifen auf den Ringen, und einige ihrer Fleischwarzen (tubercules) sind am Ende ebenfalls schwarz. Nach der ersten und zweiten Häutung wird sie grün, die schwarzen Streifen der Ringe verschwinden und die hervorstehenden Warzen sind schön roth mit schwarzem Ende. Nach der dritten Häutung bekommen eben diese Warzen, sowohl diejenigen auf dem Rinken, als diejenigen der ersten Reihe an den Seiten, ein goldgelbes Ansehen, und bei den andern ist das Ende schönblau oder intensiv violett. Zu dieser Zeit erscheint, aber nur bei einigen Individuen, an der Seite, unter den Seitenwarzen des fünften, sechsten, manchmal auch des siebenten Segments, ein silberglänzendes Plättchen, welches sich am besten mit einem, an dieser Stelle liegen gebliebenen Quecksilbertropfen vergleichen läßt. Nach der vierten Häutung sind die Veränderungen nicht mehr erheblich und ich glaubte, daß nun die Raupe, wie alle anderen Bombyx-Raupen, welche drei und größtentheils vier Häutungen durchmachen, ihren Cocon spinnen und sich verpuppen werde; zu meinem Erstaunen aber verfiel sie (am 29. September) in einen fünften Schlaf. Sie macht also eine Häutung mehr durch als ihre Gattungsgenossen – eine bisher noch nicht beobachtete Thatsache. Dieser neue Seidenwurm wird gewiß große Vortheile gewähren, wenn es mir gelingt, ihn in der europäischen Landwirthschaft einzuführen; denn er webt einen außerordentlich großen Cocon, welcher zehnmal so viel Seide enthält, als derjenige des Maulbeer-Seidenwurms. Um ein Kilogr. Seide zu erhalten, sind bekanntlich ungefähr 6000 Cocons des gewöhnlichen Seidenwurms erforderlich, wogegen man vom Tussah-Seidenwurm dazu nur 600 Cocons braucht. Der einfache Faden vom Cocon des Tussahwurms ist 6–7 mal so stark und 4–5mal so dick als derjenige des gewöhnlichen Seidenwurms, er besitzt einen schönen Glanz und läßt sich jetzt sehr gut färben, wie ich bereits mitgetheilt habe.S. 157 in diesem Bande des polytechn. Journals. Als einfacher Faden abgehaspelt, hat diese Seide die Feinheit (den Titre) der gewöhnlichen Seide von 4/5 Cocons, und in diesem Zustande dürfte sie ganz neue Anwendungen in der Industrie finden. Die Einführung dieses Seidenwurms, so wie diejenige meines Bombyx pernyi aus dem nördlichen China wäre besonders deßhalb von Wichtigkeit, weil sie mit Eichenblättern aus unsern Schlägen und in Gegenden gezogen werden können, wo der Maulbeerbaum nicht mehr mit Vortheil cultivirt werden kann. Wenn es mir gelänge, mit diesem nützlichen Insect unsere Landwirthschaft zu bereichern, so könnten unsere armen Bauern im nördlichen Europa es durch ihre Frauen und Kinder aufziehen lassen, also fast ohne Kosten, wodurch sie, wie in einem großen Theil China's und Indiens, sich bald den Rohstoff der Kleider verschaffen würden, für welche wir jetzt ungeheure Massen von Baumwolle dem Auslande abkaufen. Nachtrag. Hr. Dumeril berichtete am 15. October d. J. der (französischen) Akademie der Wissenschaften, daß eine Anzahl der oben erwähnten, von Hrn. Guérin-Mèneville erhaltenen Raupen im Gehege der Reptilien-Menagerie des Pariser Museums auf Zweigen des Brustbeerbaums und der Jambosia pedunculata gefüttert wurde und sich gegenwärtig im Verpuppungszustande befindet. (Comptes rendus, October 1855, Nr. 16.)