Titel: Zum Stereoskop; von Professor Kieß.
Fundstelle: Band 153, Jahrgang 1859, Nr. CXVIII., S. 455
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CXVIII. Zum Stereoskop; von Professor Kieß. Aus dem württembergischen Gewerbeblatt, 1859, Nr. 36. Mit Abbildungen. Kieß, zum Stereoskop. Nachdem Hr. Professor Dove in Berlin gelehrt hat, wie das Stereoskop zu Erkennung des falschen Papiergeldes angewendet werden könne, eignet sich das, was ich über diese Sache Neues zu sagen habe, ohne Zweifel sehr gut ins Gewerbeblatt, sofern man auch ohne ein Stereoskop den gleichen Erfolg haben kann. Daß man die stereoskopischen Erscheinungen an zwei Bildern einer Zeichnung auch ohne stereoskopisches Instrument mit bloßen Augen wahrnehmen könne, ist keine ganz unbekannte Sache mehr; wenigstens habe ich auf der Naturforscherversammlung zu Tübingen in der physikalischen Section einen Gelehrten gesehen, welcher außer mit die Fertigkeit hatte, stereoskopische Zeichnungen mit bloßen Augen, wenn ich so sagen darf, stereoskopisch anzuschauen. Auch bei Hrn. Prof. v. Nörrenberg habe ich im Juli d. I. die gleiche Fertigkeit wahrgenommen. Da aber seine Art, stereoskopisch zu sehen, von der meinigen wesentlich abwich, so bin ich erst durch diesen Unterschied vollends zu richtiger Einsicht in die Sache gekommen: man kann nämlich auf zweierlei Art ohne stereoskopisches Instrument stereoskopisch sehen. Daß wir mit beiden Augen einen Gegenstand nur einfach sehen, ist einzig Sache der Gewohnheit, und zwar ist die Regel fürs Einfachsehen die, daß die Bilder aus denjenigen Theil der Netzhaut fallen, welcher bedingt ist durch die Richtung beider Augen auf den Gegenstand: sobald die Bilder auf andere Theile der Netzhaut fallen, sieht man jeden Gegenstand doppelt. Textabbildung Bd. 153, S. 455 Eine handgreifliche Parallele erhält man auf folgende Weise: halte zwischen dem Zeige- und Mittelfinger eine Bleikugel in der hier angedeuteten Weise, so spürt jeder Finger eine Kugel, und in unserem Bewußtseyn ist diese Kugel eine einzige, weil dieß mit unserer Erfahrung und Gewohnheit übereinstimmt. Textabbildung Bd. 153, S. 456 Legt man dagegen den Mittelfinger über den Zeigefinger hinüber und bringt in der angedeuteten Weise wieder eine Kugel dazwischen, so haben wir das unzweifelhafte Gefühl von zwei Kugeln, weil es ganz außerhalb unserer Erfahrung und Gewohnheit liegt, daß eine und dieselbe Kugel zugleich diese Seiten beider Finger berühre. Wer nun das Nachstehende nicht bloß theoretisch begreifen, sondern auch praktisch anwenden will, der muß sich die Fertigkeit, doppelt zu sehen, erwerben. Dieses Doppeltsehen besteht einfach darin, daß man die Augen anderswohin, als auf den Körper richtet, welchen man doppelt sehen will. Wer dieses nicht beliebig zu thun im Stande ist, bezeichnet sich diesen andern Ort durch einen bestimmten Gegenstand. Am besten geschieht dieß auf folgende Weise: man stellt vor sich in gerader Linie zwei brennende Lichter in ungleicher Entfernung; sieht man das nähere Licht an, während man die Gedanken auf das entferntere richtet, so erscheint letzteres doppelt, und zwar wird von letzterem das Bild auf der rechten Seite vom rechten, das Bild auf der linken Seite aber vom linken Auge gesehen; richtet man dagegen die Augen auf das entferntere und die Gedanken auf das nähere Licht, so erscheint das nähere doppelt, und zwar fällt das Bild auf der rechten Seite ins linke, das Bild auf der linken Seite aber ins rechte Auge, wovon man sich durch abwechslungsweises Verdecken eines Auges leicht überzeugen kann. Daß ich für vorliegenden Zweck zwei Lichter vorschlage, hat seinen Grund darin, daß ich Leute gefunden habe, deren Gesichtssinn für Wahrnehmung der Doppelbilder beinahe noch gänzlich unentwickelt ist, und die erst durch grelle Lichteindrücke ihre Fähigkeit hiefür wecken müssen; bei nur kurzer Uebung hat man es aber bald so weit, daß man mit einer vors Auge gehaltenen Stricknadel leicht den Zweck erreicht. Auf diese Weise habe ich die Genugthuung erlebt, daß ein Mann, der den Eindruck der Körperlichkeit noch nie durch ein Stereoskop gewinnen konnte, denselben nach meiner Anweisung endlich mit bloßen Augen rein und schön erhalten hat. Wer sich nun die Fertigkeit des Doppeltsehens erworben hat, wird #die Anwendung davon leicht auf stereoskopische Zeichnungen machen können, wobei ich bemerke, daß für den Anfang die Bilder am besten einfach und nicht zu groß, sondern etwa so genommen werden, wie die beistehende Figur. Textabbildung Bd. 153, S. 457 Eine solche Figur hält man sich so weit entfernt vor die Augen, daß man sie mit oder ohne Brille deutlich sieht und daß sie eine den Augen parallele Lage hat. Fixirt man nun mit den Augen einen Punkt, der näher liegt, als die beiden Bilder, und zwar entweder mittelst freier Beherrschung der Augenmuskeln, oder indem man zwischen die Augen und die Figur in verticaler Richtung eine Stricknadel oder einen Bleistift hält, so verdoppeln sich die beiden Bilder der Figur, und zwar gehen diese Verdoppelungen desto weiter auseinander, je näher man die Stricknadel dem Auge bringt. Durch Nähern oder Entfernen der letzteren hat man es in der Gewalt, den beiden mittleren Bildern die Lage zu geben, in welcher sie auf- oder ineinander fallen, und wenn man sie in dieser Lage ruhig betrachtet, so hat man den Eindruck einer abgestumpften Pyramide in einer Reinheit, wie es durch kein Stereoskop erzielt werden kann. Daß diese abgestumpfte Pyramide dem Auge näher erscheint und ihre Quadrate kleiner, als die beiden seitwärts liegenden Bilder, ferner daß in der abgestumpften Pyramide das kleine Quadrat dem Auge näher liegt, als das große, d.h. daß die Pyramide erhaben erscheint, läßt sich leicht nachweisen. Zu bemerken ist nur noch, daß beim Gebrauch einer Brille unter Umständen das Gestell derselben einen Theil der Figur verdecken und dadurch die Wirkung stören kann. Hält man ferner obige Figur gerade wieder so vor die Augen, wie bereits angegeben, fixirt aber einen Gegenstand, welcher 10–20 Fuß entfernter ist, als die Figur, so gehen beide Bilder abermals in vier Bilder auseinander und man kann auch in diesem Fall die beiden mittleren Bilder zur Deckung und dadurch die stereoskopische Erscheinung zu Stande bringen. Da aber in diesem Fall das Ineinanderfallen beider Bilder dem Auge an einem Ort vollzogen scheint, welcher dem Auge ferner liegt, als die Zeichnung, so erscheint die abgestumpfte Pyramide von größeren Vierecken begränzt, also im Ganzen größer, als es nach der Zeichnung seyn sollte; da ferner in diesem Fall, wie oben gezeigt wurde, das Bild, welches bei der ersten Betrachtungsweise ins rechte Auge fällt, hier im linken Auge liegt und umgekehrt, so muß die abgestumpfte Pyramide in gegenwärtigem Fall eine vertiefte seyn. Das Fixiren eines entfernteren Punktes hat dadurch einige Schwierigkeit, daß das Papier, auf welchem die Figur verzeichnet ist, hiefür eine Art Hinderniß bildet; dieses Hinderniß läßt sich leicht dadurch beseitigen, daß man den oberen oder unteren Papierrand recht schmal macht und unmittelbar darüber oder darunter wegsieht, wodurch die beiden Bilder ganz ebenso in vier auseinander gehen. Sobald alsdann die beiden mittleren Bilder sich decken, wird das Auge unwillkürlich zur Betrachtung auf dieselben hingezogen. Eine Brille ist in diesem zweiten Fall nie störend; doch ist die Wirkung schöner, wenn der Kurzsichtige ohne Brille, der Weitsichtige aber mit einer Convex-Brille operirt. Wahrscheinlich kann man nur die sogenannten symmetrischen Bilder auf beide Arten, das einemal erhaben, das anderemal vertieft sehen; da aber die erste Art, bei welcher man die Augen auf einen näheren Gegenstand richtet, der Art und Weise entspricht, wie die Bilder im Stereoskop angesehen werden, so ist man durch sie im Stande, ein ächtes von einem falschen gleichlautenden Papiergeld jeden Augenblick ohne alle Hülfsmittel leicht und sicher zu unterscheiden. Dadurch, daß ich eine Zeichnung wie die obenstehende in gehöriger Größe auf die Schultafel mit Kreide zeichnete, ergötzte ich zu gleicher Zeit eine ganze Classe von Schülern mit stereoskopischen Anschauungen, welche sich durch die Größe der Zeichnung ganz imposant ausnahmen. Indem ich nun an verschiedenen Plätzen den Schülern die nöthigen Weisungen gab und dabei jedesmal die Zeichnung selber betrachtete, kam ich darauf, daß man der abgestumpften Pyramide durch vorsichtiges Drehen der Zeichnung um eine horizontale oder verticale Achse jede beliebige Schiefe geben kann. Entfernt man die Zeichnung langsam vom Auge, so wird die abgestumpfte Pyramide kleiner, ihre verhältnißmäßige Höhe nimmt aber zu; nähert man dagegen die Zeichnung dem Auge, so findet das umgekehrte Verhältniß statt.