Titel: Beobachtungen über die Arsenikesser in Steiermark; zusammengestellt von Prof. Ed. Schäfer in Gratz.
Fundstelle: Band 162, Jahrgang 1861, Nr. CXIX., S. 434
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CXIX. Beobachtungen über die Arsenikesser in Steiermark; zusammengestellt von Prof. Ed. Schäfer in Gratz. Aus den Sitzungsberichten der Akademie der Wissenschaften zu Wien, mathem.-nat. Cl., Bd. XLI S. 573. Schäfer's Beobachtungen über die Arsenikesser in Steiermark. Daß es in Steiermark Leute gibt, die Arsenik essen, war schon lange bekannt, wurde von Männern der Wissenschaft, welche die Obersteiermark besuchten, ebenfalls erwähnt, von Anderen aber wieder geläugnet und dabei besonders hervorgehoben, daß dergleichen Individuen eine weiße Substanz genießen, die jedoch nichts anderes als Kreide wäre, um ihrer Umgebung den Schein zu bewahren, daß der Genuß des Arseniks sie vor allen Krankheiten schütze, und um durch diese Täuschung ihren anderweitigen Arzneihandel, den sie als Kurpfuscher treiben, zu begünstigen. Gerüchte, Thatsachen in dieser Beziehung mußten ohne Bedeutung bleiben, so lange nicht der Beweis durch die chemische Untersuchung eines Secretes von einem vermeintlichen Giftesser hergestellt werden konnte. Geleitet durch die Wichtigkeit, welche dieser Gegenstand in gerichtlicher Beziehung hat, veranlaßte der k. k. Landes-Medicinalrath Dr. Julius Edler von Best ein Rundschreiben an die meisten Aerzte, ihre darauf bezüglichen Erfahrungen mitzutheilen. Es liefen 17 Berichte aus allen Gegenden von Steiermark ein, von welchen die aus dem nördlichen und nordwestlichen Theile von großem Interesse sind. Aus diesen Berichten theilt Schäfer Folgendes mit: Verbreitung der Arsenikesser. Der nördliche und nordwestliche Theil des Landes ist der Sitz der Arsenikesser; so zählt z.B. der Bezirk Hartberg 40, der Bezirk Lamprecht, Leoben, Oberzeiring viele Arsenikesser; vereinzelte Beobachtungen liegen von anderen Bezirken vor. Der Süden von Steiermark ist frei davon, nur in der Gegend von Pettau werden wieder Arsenikesser namhaft gemacht. Form und Dosis des Arsenikgenusses. Vor allem wird der weiße Arsenik genossen, auch der gelbe käufliche und der in der Natur als Auripigment vorkommende gelbe Arsenik. Arsenikesser beginnen mit der Dosis von der Größe eines Hirsekornes, und steigen nach und nach bis zu Dosen von der Größe einer Erbse; von Aerzten gewogene Mengen, welche vor ihren Augen verzehrt wurden, sind 2, 4 1/2, 5 1/2 Grane arseniger Säure. Diese allgemein sowie genau bezeichneten Mengen nehmen sie entweder täglich oder jeden zweiten Tag, oder ein bis zweimal in der Woche; im Bezirke Hartberg herrscht folgende Sitte: Zur Zeit des Neumondes wird mit dem Genusse des Arseniks ausgesetzt, im zunehmenden Monde mit der relativ kleinsten Gabe angefangen und bis zur Zeit des Vollmondes gestiegen, vom Tage des Vollmondes an wird die Gabe vermindert und dabei in steigender Dosis von Tag zu Tag Aloë genommen, bis starke Diarrhöe erfolgt. Gleich nach dem Genusse enthält man sich des Trinkens; sowie einige Arsenikesser Mehlspeisen dem Fleischgenusse vorziehen, hüten sich Andere vor dem Fettgenusse; der größere Theil aber verträgt alle Speisen und ist dem Genusse geistiger Getränke sehr ergeben. Die älteren, d.h. länger dem Genusse des Arseniks ergebenen Individuen empfinden bald nach der Einnahme eine angenehme Wärme im Magen, erbrechen sich auch bei größeren Dosen nicht, und empfinden höchstens bei übermäßigem Genusse eine Eingenommenheit des Kopfes. Stand, Geschlecht und Alter. Arsenikesser sind in der Regel starke, gesunde Leute, zumeist der niederen Volksclasse angehörig – Holzknechte, Pferdeknechte, Schwärzer, Waldhüter. Obwohl das weibliche Geschlecht dem Arsenikgenusse nicht abhold ist, so gehört doch die größte Zahl der Arsenikesser dem männlichen Geschlechte an, sie verfallen schon oft im frühen Alter (18. Jahr) in diese Gewohnheitssünde, und werden dabei alte Leute (76 Jahre). Veranlassung zum Arsenikessen ist der Wunsch, „gesund und stark zu bleiben“ und sich dadurch vor Krankheiten jeder Art zu schützen; selten wird der Arsenikgenuß bei schon Kränkelnden begonnen, obwohl (von einer Seite bestritten) er auch gegen Schwerathmigkeit gebraucht wird. Gewöhnlich bleibt der Arsenikesser auch bei längerem Genusse (20 bis 30 Jahre) gesund, fühlt bei geringeren Dosen und zeitweiligem Aussetzen des Giftes eine Schwäche des ganzen Körpers, die denselben zu erneutem Genusse anspornt. Obwohl die unverwüstliche, durch die härtesten Lebenseinflüsse gestählte Gesundheit der Aelpler einen Panzer gegen den Arsenik bildet, und der langsame und mit kleinen Dosen beginnende, nach und nach steigende Genuß den Organismus zur Aufnahme größerer Mengen vorbereitet findet, so enden doch gewiß viele Arsenikesser mit einem Siechthume ihres sonst unverwüstlichen Körpers. Der Grund, warum der Genuß des Arseniks eine so große Verbreitung hat, dürfte darin zu suchen seyn, weil dessen Anwendung und anscheinend günstige Wirkung bei Pferden, die schon lange bekannt ist, auch den Menschen dazu verlockte. Dr. Knappe zu Oberzeiring schickte dem Verf. den Harn von einem Arsenikesser ein, einem Manne von 30 Jahren. Derselbe ißt Arsenik seit 12 Jahren; anfangs nahm er ganz kleine Körnchen, später wöchentlich zweimal größere Stückchen; in den ersten Wochen fühlte er eine große Schwäche, welche sich aber immer nach einer neuen Einnahme wieder verlor; dabei hat er niemals ein Brennen im Halse oder dem Magen verspürt. Nur einmal, als er nach Genuß eines größeren Quantums geistiger Getränke, um sich angeblich das Unwohlseyn zu vertreiben, ein ungefähr Feldbohnen großes Stück weißen Arsenik genommen hatte, fühlte er große Eingenommenheit des Kopfes. Die Beobachtung begann am 21. Februar 1860. An diesem Tage will er bereits ein Stückchen Weißen Arseniks eingenommen haben: am 22. Februar nahm er ein Stückchen weißen Arseniks von 4 1/2 Granen, zerknirschte es mit den Zähnen und verzehrte es in Gegenwart des Dr. Knappe; ebenso am 23. ein Stückchen von 5 1/2 Granen. Er aß während dieser Zeit mit Appetit die ihm vorgesetzten Speisen, trank viel geistige Getränke, und entfernte sich ganz wohl am 24. Februar; er sagte aus, daß er drei- bis viermal in der Woche die oben bezeichneten Mengen zu sich nehme. Die dem Verf. übersandte Menge Harn betrug 460 Kub. Centimet., es war ein Drittel der täglichen Harnmenge. Die Untersuchung wies darin Arsen mit aller Sicherheit nach, indessen standen die gefundenen Spuren des Arseniks im Harne mit dessen Einnahme nicht im Einklange. Wenn man jedoch die schwere Löslichkeit der arsenigen Säure sowie die langsame Ausscheidung derselben nach erfolgter Resorption berücksichtigt und bedenkt, daß der größere Theil durch den Stuhlgang entleert werden dürfte, so sind die gefundenen Spuren des Arseniks im Harne leicht begreiflich. Zu den unfreiwilligen Arsenikessern in Steiermark gehören noch die nutzbaren Hausthiere. Da in den Berichten große Gaben benannt wurden, welche dem Pferdefutter einverleibt werden, so war es wichtig, darüber genaue mit dem Secreten und Excreten in Verbindung stehende Beobachtungen anzustellen; dazu diente ein vierjähriges Pferd von der st. st. Thierheilanstalt, welches wegen ausgebreiteter Speichelfisteln unheilbar und deßhalb zur Vertilgung bestimmt war. Der provisorische Director dieser Anstalt, der Landesthierarzt Dr. Ritter v. Koch, stellte die Versuche an, und theilte seine Beobachtungen darüber dem Verf. mit. Das Pferd erhielt in dem Zeitraume von 23 Tagen in steigender Gabe, die mit 5 Gran am ersten Tage begonnen und mit 100 Gran am letzten endete – 555 Grane arseniger Säure. In den ersten zwei Drittheilen der Beobachtungszeit ließ sich außer einer auffallenden Munterkeit, die sich bis zur Aufgeregtheit steigerte, an dem Thiere nichts Weiteres beobachten; an dem Drüsenleiden war keine bemerkbare Veränderung; am Schlusse des zweiten Drittels der Beobachtungszeit entstand Diarrhöe (das Thier litt übrigens schon vor dem Gebrauche des Arseniks an Darmkatarrh); es wurde deßhalb durch drei Tage der Arsenik ausgesetzt. – An den kranken Drüsen entstanden neue Geschwürbildungen. In den letzten drei Tagen der Beobachtungszeit wurden dem Thiere 50, 60, 100 Gran arseniger Säure vollständig einverleibt; es zeigte sich bei diesen großen Dosen keine auffallende Erscheinung – zwölf bis fünfzehn Athemzüge, fünfzig bis sechzig Pulsschläge in der Minute – es harnte öfters und sparsam. An dem letzten Beobachtungstage wurden die Excremente, der Harn, der Speichel, der während einer Fütterung aus den Fisteln sich entleerte, sowie das durch einen Aderlaß gewonnene Blut gesammelt und diese Objecte einer chemischen Analyse unterzogen, welche folgende Resultate lieferte: I. In 53 Kub. Centimet. Speichel war nur eine Spur von Arsen nachweisbar. II. Der während 24 Stunden mit der größten Genauigkeit gesammelte Harn betrug nur 29,96 Kub. Centimet. – eine sehr geringe Quantität; ein Liter davon enthielt 0,012 Grm. arsensaures Bittererde-Ammon mit einem Aequivalent Wasser, welche 0,006 Grm. oder 0,082 Gran arseniger Säure entsprechen; somit war in der ganzen Harnmenge 0,018 Grm. oder 0,246 Gran arseniger Säure enthalten. III. Achtzehn Loth Blut enthielten 0,03 Grm. arsensaures Bittererde-Ammon mit einem Aequivalent Wasser, welche 0,0156 Grm. oder 0,214 Gran arseniger Säure entsprechen. IV. Von 5 Pfd. Excrementen wurden 20 Loth untersucht; sie enthielten 0,15 Grm. arsensaures Bittererde-Ammon mit einem Aequivalent Wasser, diese entsprechen 0,079 Grm. oder 1,08 Gran arseniger Säure; in den sämmtlichen Excrementen, vorausgesetzt, wenn die Vertheilung eine gleichmäßige wäre, waren 8,64 Gran arsenige Säure zu finden. Es muß hier noch bemerkt werden, daß bei diesem Pferde die ausgebreiteten Speichelfisteln bis auf zwei kleine Fistelöffnungen heilten und zwar ohne weiteres Zuthun; es wurde entlassen. Es wird als eine bekannte Thatsache erzählt, daß Pferde bei Jahre langem Gebrauche des Arseniks fett und muthig werden, daß aber auch beim plötzlichen Aussetzen des Arseniks dieselben ebenso schnell zu Grunde gehen. Ueber den Zusatz des Arseniks zum Futter des Rindes und anderer Hausthiere enthalten die Berichte ebenfalls Andeutungen; der chemische Nachweis konnte jedoch bis jetzt noch nicht geführt werden. Diese Beobachtungen sind deßhalb von Interesse, weil sie zeigen, wie schnell sich der Organismus einem so heftig wirkenden Gifte accommodirt; sie zeigen ferner, daß die Ausscheidung des Giftes durch die Nieren eine geringe und deßhalb lange andauernde, die Anhäufung desselben im Blute eine ziemlich bedeutende ist, daß jedoch ein namhafter Theil des Giftes durch den Darmcanal entleert werde.