Titel: Ueber den Rettungsapparat der „deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger.“
Fundstelle: Band 183, Jahrgang 1867, Nr. LXXVII., S. 274
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LXXVII. Ueber den Rettungsapparat der „deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger.“ Ueber den Rettungsapparat der „deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“. Die Weser-Zeitung vom 2. Januar 1867 enthält einen vom Generalsecretär der „deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ Hrn. Dr. H. A. Schumacher erstatteten Bericht über die am 30. December v. J. mit dem Rettungsapparate dieser Gesellschaft und insbesondere mit dem Raketengeschütze desselben zu Bremen angestellten Probeversuche, welcher die in dieses Gebiet einschlagenden Fragen so gründlich beleuchtet, und auch ohne jede Zeichnung ein so anschauliches Bild des ganzen Verlaufes vom Rettungsprocesse darbietet, daß es im Interesse unseres Leserkreises liegen dürfte, denselben im folgenden Auszuge mitzutheilen: „Die mit einem RettungsgeschützNettungsgeschütz zu lösende Aufgabe ist bekanntlich an sich sehr einfach; es gilt, möglichst schnell und sicher durch die Luft mittelst Tauwerk eine Verbindung zwischen Wrack und Strand zu beschaffen; zu solchem Zweck muß zunächst dem Schiffe eine Leine zugeworfen und dann mit dieser ein Tau ohne Ende nachgezogen werden, welches an Bord und auf dem Lande befestigt, eine freie Communication gestattet und einen Rettungsstuhl hin- und herzieht. So einfach aber auch die Aufgabe an und für sich ist, so schwierig wird doch die Ausführung derselben durch die besonderen Verhältnisse, unter denen dieselbe stattfinden muß. Es ist erfahrungsmäßig meist bei Nacht, Sturm und Ungewitter zu operiren; folglich müssen die einzelnen Theile des Apparates möglichst einfach und handlich seyn, und insbesondere sind die Trossen gegen Verschlingungen und Verwickelungen zu schützen. Ferner liegt der Stationsort nicht selten entfernt von der Strandungsstelle; Wege sind oft nicht vorhanden oder auf Deichen und durch Dünen schwer passirbar; der Strand selbst besteht nur bisweilen aus festem Boden, meist bloß aus unergründlichem Sand; der Menschen, die zur Rettung eilen können, sind besonders an den Nordseeküsten nur wenige, und mitunter, z.B. auf einsamen Inseln, ist kaum ein Pferd für den Transport der Geräthschaften vorhanden: hieraus ergibt sich, daß der ganze Apparat möglichst leicht, möglichst bequem zu bewegen seyn muß. Endlich pflegen die Strandungen nur an wenigen Punkten der deutschen Seegrenzen in nächster Nähe der Küste sich zu ereignen; fast überall bestehen Bänke, Vorgründe und Riffe, über die man hinweg reichen muß; folglich hat man ein Geschütz zu beschaffen, welches die erste Leine weit in die See hinauszutragen vermag, und eine Leine, die dem raschen Fluge eines starken Geschosses zu folgen im Stande ist. „Das gestern erprobte Rettungsgeschütz scheint als ein Normalwerkzeug für die Stationen bezeichnet werden zu können. Zunächst hat das Geschoß selber sich trefflich bewährt. Es ist dieß eine 3zöllige Achsenstabrakete, eine Modification der Kriegsrakete, welche an einem Stabe eine dünne Kette trägt, an der die Schießleine befestigt wird. Die Rakete, im kgl. preuß. Feuerwerkslaboratorium zu Spandau gefertigt, hat einen conischen gußeisernen Kopf, dann in einer starten Eisenblechhülse 7 1/2 Pfd. festgepreßten Pulvers und an der Hülse eine gußeiserne Achse, in die der hölzerne Raketenstab hineingeschoben wird; dieß ganze Geschoß (5 Fuß 9 1/2 Zoll rh.) wiegt einschließlich Verbindungskette 38 1/2 Pfund; die geladene Rakete für sich 31 Pfund, die leere 23 1/2 Pfund, der Kopf allein 16 Pfund; ein so bedeutendes Gewicht ist durchaus erforderlich, wenn die Rakete mit Aufsicht darauf, daß selbst bei schwerem Unwetter die Flugbahn dem Ziele entspreche, in die See hinausgeschossen werden soll. Die Kraft des Geschosses zeigte sich noch deutlicher bei einer späteren Probe, bei der es ohne Leine abgeschossen wurde und bis in die letzten Ausläufer der kleinen Weser flog, etwa 3000 Fuß vom Operationsorte entfernt. Da bei jedem, unter gewöhnlichen Umständen stattfindenden Rettungsversuch nach den jetzt bestehenden Vorschriften der deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger 6 Geschosse schußbereit seyn sollen, so ergibt dieß für den Transport ein Gewicht von 231 Pfd., wozu noch der Kasten mit 51 Pfund kommt, indem die Raketen, gegen jede Feuchtigkeit oder Reibung geschützt, aufbewahrt werden. Das Geschoß liegt vor dem Abfeuern in einem Schießgestelle, das nur aus einer durch die beiden Vorderbeine zu richtenden Rinne besteht, an deren unterem Grenzblatt das Ende des Raketenstabes sich lehnt; das Abfeuern geschieht durch eine mittelst der Nadel in Brand gesetzte Zündpille. Mit sehr starker Anfangsgeschwindigkeit saust das Geschoß aus der Schießrinne fort und führt die an seiner Kette befestigte dünne Leine mit sich durch die Luft. Die Schießleine, die jetzt verwendet wird, ist hier aus sogenanntem schlesichen Eisenhanf bester Qualität von Hrn. A. Lahmann Fr. Sohn angefertigt; sie hat einen Umfang von kaum 1 Zoll und enthält 27 feine Fäden; jede Schießleine ist 1440 Fuß lang, wiegt nur 42 Pfund und reißt erst bei einer gleichmäßig wachsenden Belastung mit 1400 Pfund. Trotz dieser Stärke hängt außerordentlich viel von der gleichen und ungestörten Abwickelung der Leine ab; denn folgt diese nicht leicht und schnell dem dahin sausenden Geschosse, verschlingt sie oder schlägt sie Knoten, so ist die größte Gefahr des Zerreißens und somit der Nutzlosigkeit des Schusses vorhanden. Deßhalb ist die Art der Abwickelung von nicht geringer Bedeutung. Bei den gestrigen Proben ward ein neuer Leinenbehälter in Anwendung gebracht, ein zu schließender viereckiger Kasten, in dem die Leine sorgfältig um Zähne aufgeschossen und durch diese letzteren festgehalten wird; erst kurz vor dem Abfeuern werden die Zähne nebst dem einen Boden herausgezogen, so daß die Schläge der Leine bis dahin unverrückbar im Kasten liegen, im Moment des Schusses aber ganz frei sind und dem Zuge des Geschosses ebenmäßig und ohne Widerstand zu folgen vermögen. Bei jedem Rettungsversuch sind unter gewöhnlichen Umständen drei solcher Leinenbehälter nach den jetzt bestehenden Vorschriften bereit zu halten; jeder derselben wiegt mit Leinen und Zähnen 96 Pfund. „Es war ein höchst interessanter Anblick, als die Rakete mit ihrem glänzenden Leinenschweife sausend über das Bockschiff wegflog, welches auf der Mitte der Weser etwa 200 Fuß vom Ufer vor Anker gelegt war und das Wrack darstellte. Jenseits des Bockes schlug das Geschoß etwa 50 Fuß vom jenseitigen Ufer auf dem Werder ein. Die Schießleine wurde sofort an Bord ergriffen und eingeholt. Am Lande befestigte man schleunigst an dieselbe das aus Manillahanf gefertigte, 1 1/2 Zoll dicke Doppeltau ohne Ende, welches durch einen Block läuft, der mit an Bord gezogen und dort dann an einem möglichst hohen Punkte befestigt wird. Es ist nothwendig, daß diese Leine, das Hißtau, durch das die ganze Hin- und Herbewegung geschieht, möglichst leicht an Bord zu bringen ist, damit die Arbeit der Schiffbrüchigen nicht übergroße Anstrengungen erfordert. Dieß schien nur dadurch erreichbar zu seyn, daß man sie um eine leicht sich drehende Welle legte, jedes Ende für sich und die Bucht auf eine Mittelscheibe. Bald drehte sich auch in Folge des Ziehens an Bord die Welle, welche vorn an dem Stationskarren angebracht war, während des Transportes indessen hinter demselben eingehängt wurde, und lief glatt dem Wasser zu ab. Mit dem Tau, das 2160 Fuß lang ist, wiegt sie 164 Pfund; es zeigte sich die Länge des Taues dadurch recht anschaulich, daß, als der Block mit der einen Bucht desselben an Bord befestigt war, mit der Welle sehr weit zurückgegangen werden mußte, um den einen Blockpfahl mit dem anderen Ende in die Erde schlagen zu können; erst vor der Osterthorstraße dicht neben der Kunsthalle war die Welle abgewickelt. Auf eine solche Distanz ist mithin die Wirkung des Geschützes berechnet. „In Fällen, die große Eile nöthig machen, ist es gestattet, an diesem Hohltau, das zwischen den beiden Blöcken (an Bord oder am Lande) ungestört sich hin und her bewegte, sofort den Rettungsstuhl zum Schiffe zu ziehen. Da dasselbe indessen nicht stark genug ist, um völlig sicher zu seyn, so ist mit ihm in gewöhnlichen Fällen erst ein starkes 3 3/4 zölliges Rettungstau an Bord zu ziehen. Dieses ist ebenfalls am Vordertheil des Karrens um eine Welle gewunden und hat bei einer Länge von 1080 Fuß ein Gewicht von 209 Pfund. So wie es an Bord befestigt ist, muß es möglichst straff gespannt und aus dem Wasser geholt werden, damit der Rettungsstuhl so wenig, wie nur angeht, durch die Wogen gezogen werden muß. An jene Welle ist daher ein Treibrad angebracht und bevor dieß in Bewegung gesetzt wird, werden die beiden Deichselbäume des Karrens durch zwei Stangen in die Höhe gerichtet; über eine zwischen ihnen befestigte Rolle wird das Rettungstau gelegt. Mittelst des Treibrades ist nun das Tau, trotz des Widerstandes der Wogen, ziemlich straff zu bringen; der Karren, der bei solchem Anspannen ein bedeutendes Gegengewicht bieten muß, wird von zwei Vorderstützen, die in die Erde gegraben werden, und von mehreren an Hakenpfählen befestigten Stricken festgehalten. So wie das Tau straff gespannt war, wurde der Laufblock, an dem der Rettungsstuhl hängt, hinübergestreift und zum Schiff hingezogen. 20 Minuten nach dem Abfeuern der Rakete setzte sich der Steuermann G. Kallenberg in jenen Rettungsstuhl, eine Lifeboje mit hosenartigem Einsatz, und erreichte trocken das Ufer; zum zweitenmale machte der Steuermann H. Bödeker an dem Tau die Fahrt durch die Luft. Das zahlreich versammelte Publicum begrüßte das Gelingen des Werkes mit großem Jubel; insbesondere fand die Construction des Karrens, der mit allem Zubehör vom hiesigen Stellmacher Hrn. J. H. Arnholz angefertigt ist, allgemeines Interesse. Der Karrenkasten hat eine Länge von 5 Fuß (rh.), Breite von 4 Fuß und Höhe von 16 1/2 Zoll; er trägt eine etwas vorspringende, zum Transport der Leinenbehälter und des Rettungsstuhles bestimmte obere Fläche und hat im Inneren drei Fächer, die von beiden Seiten zugänglich sind; das mittlere ist zur Aufnahme des Raketenkastens, der Zünder, Zündschlösser u.s.w. bestimmt; das eine Seitenfach enthält das Schießgestell (100 Pfd.) nebst den Stangen zum Aufrichten des Bockes und das andere eine Menge verschiedener Geräthschaften (90 Pfund), wie Hakenpfähle, Raketenstäbe, Ketten, Schläger, Blöcke, Reservetaue u. dgl. Die Räder sind 3 Fuß 8 1/2 Zoll (rh.) hoch und haben einen breiten Reif von 4 1/2 Zoll. Der ganz beladene und voll ausgerüstete Karren wiegt – obgleich sein Gestell nur ein Gewicht von 577 Pfund aufweist – 2000 Pfund und hat somit eine in den meisten Fällen nicht zu bedeutende Schwere. Damit die Hülfeleistung aber auch an solchen Stellen versucht werden kann, zu denen der Karren keinen Zugang hat, sind die einzelnen Theile des Apparates abzunehmen und für sich allein je von 2 Mann ohne besondere Mühe zu transportiren; insbesondere die verschiedenen Kasten, die Deichselbäume und die beiden Wellen. Es ist also nicht erforderlich, den Karren bis unmittelbar an die Stelle zu schaffen, von der aus der Rettungsversuch geschehen soll; um auch in solchem Fall das Rettungstau möglichst straff spannen zu können, liegt die für dasselbe bestimmte Welle nebst ihrem Treibrade in einem besonderen Windgestell, das für sich abzuheben ist und mit dem Tau und der Welle 571 Pfund wiegt. Dieß allein ist im Boden so zu befestigen und zu verankern, daß ein genügender Widerstand beim Anspannen des Taues vorhanden ist. „Obwohl noch kein schriftliches Gutachten der bei der Probe gegenwärtigen Techniker vorliegt, ist doch die oben ausgesprochene Annahme wohl gerechtfertigt, daß der angestellte Versuch die Brauchbarkeit des ganzen Apparates zur Genüge dargethan hat; mit Glück sind die verschiedenen Schwierigkeiten, die sich bieten, überwunden worden und nachdem jetzt bereits die Geschützstationen zu Kraxtepellen, Alttief, Koppalin und Leba mit Raketen gleicher Construction versehen sind, wird die weitere Ausrüstung der deutschen Stationen rasch zu beschaffen seyn. Zu diesem Zweck beabsichtigt der Vorstand, genaue Zeichnungen des ganzen Apparates anfertigen und nebst ausführlichen Instructionen unter die Stationsvereine vertheilen zu lassen; auch die Hoffnung scheint berechtigt, daß der Apparat auf der Pariser Weltausstellung einen würdigen Repräsentanten des jungen deutschen Rettungswesens abgeben werde.“ Darapsky.