Titel: Bedeutung der technischen Rohstofflehre (techn. Waarenkunde) als selbstständiger Disciplin und über deren Behandlung als Lehrgegenstand an techn. Hochschulen; von Dr. Julius Wiesner, o. ö. Prof. an der Wiener Universität.
Autor: Julius Wiesner [GND]
Fundstelle: Band 237, Jahrgang 1880, S. 468
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Bedeutung der technischen Rohstofflehre (techn. Waarenkunde) als selbstständiger Disciplin und über deren Behandlung als Lehrgegenstand an techn. Hochschulen; von Dr. Julius Wiesner, o. ö. Prof. an der Wiener Universität. (Schluſs der Abhandlung S. 400 dieses Bandes.) Wiesner, über die technische Rohstofflehre. Ich gehe nun zu den weiteren Aufgaben unserer Disciplin über. Um der Charakteristik der Rohstoffe die möglichst sicherste Unterlage zu geben, ist es nothwendig, die Herkunft dieser Stoffe genau zu kennen, also zu wissen, welche Pflanze oder welches Thier einen bestimmten Rohstoff liefert, und welchen Theilen des betreffenden Organismus der Rohstoff entspricht. Nur so ist eine wissenschaftliche Fixirung des Rohstoffes als Naturerzeugniſs möglich und häufig wird es nur auf diese Weise möglich sein, eine sichere und erschöpfende Charakteristik des Rohstoffes zu entwerfen. Wenn ich z.B. weiſs, daſs der Stamm einer bestimmten monokotylen Pflanze einen gewissen Faserstoff liefert, so werde ich durch das Studium des Gefäſsbündels dieses Stammes eine erschöpfende Diagnose der Faser zu geben im Stande sein. Gesetzt, die Faser wäre sehr rein abgeschieden, bestünde nur aus den Bastbelegen des Gefäſsbündels und ich entwerfe auf Grund dieses Materials die Diagnose, so paſst dieselbe nicht auf ein weniger sorgfältig dargestelltes Product, welches vielleicht reichlich die Holztheile der Gefäſsbündel noch enthält. Im Uebrigen wird der Rohstofflehre, namentlich als Unterrichtsgegenstand, die Aufgabe zufallen, ein möglichst anschauliches Bild von den einzelnen Rohstoffen zu entwerfen, also – ohne ins Gebiet der Technologie unnöthig überzugreifen – die Eigenschaften desselben anzuführen, die Gewinnungsweise namentlich in so fern, als sie auf die Eigenschaften des Productes Einfluſs nimmt, zu schildern, die Heimath der Pflanzen und Thiere, aus welchen die Rohstoffe abgeschieden werden, namhaft zu machen, die Gröſse der Production, Wichtigkeit für den Handel und die Industrie zu berühren und die bisherige Verwendung und etwaige Verwendbarkeit anzugeben. Ferner ist auch auf die bei der Aufbewahrung eintretenden Veränderungen, auf Verfälschungen und Nachahmungen gebührend Rücksicht zu nehmen. Durch eine kurze Schilderung der Geschichte der einzelnen Rohstoffe wird das von demselben entworfene Bild an Interesse gewinnen. Ganz besonders wird es sich der Lehre dieses wohl etwas trockenen Gegenstandes nicht entgehen lassen dürfen, durch Schilderung der wechselnden Bedeutung eines Rohstoffes und Vorführung anderer historischer Momente den Vortrag unserer Disciplin zu beleben. Nach diesem Hinweis auf die einzelnen der technischen Rohstofflehre zufallenden Aufgaben will ich in aller Kürze schildern, in wie weit dieselben bereits gelöst vorliegen und was nach dieser Richtung noch zu thun übrig geblieben. Wenn ich mich auch selbst als denjenigen bezeichnen muſs, welcher den Gedanken zu einer technischen Rohstofflehre als einer selbstständigen Disciplin zuerst faſste und zu verwirklichen versuchte, so muſs ich doch anerkennen, daſs ich mancherlei zum Theile sehr wichtige Vorarbeiten hierzu bereits gefunden habe. Das Bestreben, naturhistorische Untersuchungsmethoden zur Lösung technischer Fragen heranzuziehen, ist unter den Technologen seit langem rege und es finden sich in den Werken von Payen und anderer berühmter Techniker zahlreiche Belege dafür. Einer strengeren Prüfung halten indeſs die beigebrachten, auf die Unterscheidung der Rohstoffe bezugnehmenden, einschlägigen Daten nicht Stand, da namentlich den so wichtigen mikroskopischen Prüfungen die strenge anatomische Unterlage abgeht. Doch muſs dem Streben jener ausgezeichneten Männer und ihrem Vorausblick die schuldige Anerkennung und zwar um so mehr gezollt werden, als die Botaniker und Zoologen, denen ja die Bearbeitung der technischen Rohstofflehre zufällt, zu jener Zeit fast gar kein Interesse zeigten, von der Höhe der reinen Wissenschaft herabzusteigen und auch für die Praxis etwas zu leisten. Mit groſsem Rechte tadelt Schleiden Vgl. die dritte Auflage des im Text genannten Werkes (1879). Methodologische Grundlage, S. 8. in seinen berühmten Grundzügen der wissenschaftlichen Botanik diese Indolenz in folgenden Worten: „Alle die Gewerbe, welche vegetabilische Stoffe benutzen und verarbeiten, fragen völlig vergebens in zweifelhaften Fällen bei ihr (der Botanik) an, der es zustände, hier die bewerbe zu leiten und zu berathen; aber sie weiſs nichts brauchbares anzugeben, kennt oft gerade die Pflanzen, welche wichtige Stoffe liefern, am wenigsten und entlehnt alles, was über den Kreis der blosen Namengebung hinausgeht, eben nur den Technikern selbst.“.. Diese so berechtigte Anklage blieb fast unberücksichtigt. Nur einer der Schüler Schleiden's, der als Pflanzenanatom hochverdiente Schacht, machte den Versuch, die Gespinnstfasern anatomisch zu bearbeiten. Sein Buch ist in technologischen Kreisen sehr bekannt und es bekundet offenbar einen Fortschritt. Leider wurde die Schrift mit groſser Flüchtigkeit niedergeschrieben, enthält manchen groben Irrthum, und was am bedauerlichsten ist, es kehrt die Exactheit der anatomischen Methoden nicht mit dem gehörigen Nachdrucke hervor, sondern räumt ihnen in der Unterscheidung der Fasern fast gar kein gröſseres Recht ein als den roh empirischen Unterscheidungsmerkmalen, von deren Haltlosigkeit man sich später vollkommen überzeugte. In der Untersuchung der Stärke und des Mehles, mancher Rinden, Hölzer und Harze arbeiteten uns die Pharmakognosten in dankenswerther Weise vor, ebenso in Betreff vieler Holzarten einige Botaniker, wie Schacht, Th. Hartig, Roſsmann u.a. Im Anfange der 60er Jahre begann ich meine Studien über vegetabilische Rohstoffe, deren Ergebnisse ich zum gröſsten Theile in den oben genannten vier Werken veröffentlichte. Im Kreise befreundeter Fachgenossen und meiner Schüler gaben diese meine mikroskopischtechnischen Untersuchungen vielfache Anregungen und gewiſs auch unabhängig von diesen Arbeiten erwachte die Neigung zu ähnlichen wissenschaftlich-praktischen Studien. Der ausgezeichnete Pharmakognost, Prof. Dr. A. Vogel, welcher im Anfange der 70er Jahre an der technischen Hochschule zu Prag als Lehrer der Botanik und technischen Waarenkunde wirkte, hat unsere Disciplin durch eine Reihe werthvoller Arbeiten, namentlich über Farbhölzer gefördert; unter meinen Schülern nenne ich vor allem den als Botaniker bereits sich eines bekannten Namens erfreuenden Dr. F. v. Höhnel Derselbe wurde zum Nachfolger des Verfassers für das Lehramt der technischen Waarenkunde an der technischen Hochschule zu Wien berufen.D. Red. , der unsere Literatur durch eine vortreffliche Monographie der Gerberrinden bereichert hat, Dr. Robert Schlesinger, welcher die mikroskopische Unterscheidung der Kunstwolle von der Naturalwolle zuerst in Angriff nahm, Dr. T. Hanausek, der eine Reihe von Droguen dem heutigen Standpunkte der Wissenschaft gemäſs beschrieb, ferner Dr. Beckerhinn, J. Hübl, M. Hock, J. Prasch und A. Ungerer, welche einzelne einschlägige Arbeiten, zum Theile in Gemeinschaft mit mir ausführten. Sehr eingehende Untersuchungen über verschiedene Rohstoffe, namentlich über zahlreiche auch in technischer Beziehung wichtige Holzarten verdanken wir Dr. J. Moeller in Wien; höchst schätzbare Beiträge zur technischen Rohstofflehre lieferte Dr. Wittmack, Director des landwirthschaftlichen Museums in Berlin, Prof. Belohoubek in Prag u.a. Fast alle Arbeiten der genannten Forscher beziehen sich auf Pflanzenstoffe, welche allerdings in der technischen Rohstofflehre die Hauptrolle spielen. Auch das, was die Pharmakognosten uns lieferten – auſser den oben schon genannten Beiträgen die denkbar vollständigste Bearbeitung solcher Droguen, welche wie Opium, Chinarinde nunmehr zur fabriksmäſsigen Darstellung der wirksamen Bestandtheile dienen und somit zu technischen Rohstoffen geworden sind – alles das bezieht sich auch wieder nur auf vegetabilische Producte. So gelangte die technische Rohstofflehre in ihrem den Pflanzenstoffen gewidmeten Theile rasch zur Entwicklung. Was in dieser Richtung die letzten beiden Jahrzehnte geboten haben, leistet der Praxis sehr vielfach gute Dienste und ist meist schon so gut durchgearbeitet, daſs der Docent der technischen Rohstofflehre für seine Vorträge ein reiches Literaturmaterial bereits vorfindet. Daſs noch vieles selbst unter den schon eingebürgerten Pflanzenrohstoffen zur Bearbeitung übrig geblieben ist, erklärt sich bei dem Umstände, daſs unsere Disciplin noch so jung ist, von selbst. Weit weniger gut ist es mit den Rohstoffen des Thierreiches bestellt. Einzelne wichtige animalische Rohproducte, welche aus der Landwirthschaft dem Gewerbe zuflieſsen, sind genau studirt, z.B. die Schafwolle. Auch über die Seide liegen bereits brauchbare Arbeiten vor. Die übrigen thierischen Fasern harren aber ebenso noch einer gründlichen Bearbeitung wie die anderen animalischen Rohstoffe. Es wäre sehr zu wünschen, wenn einige in der histologischen Richtung tüchtig geschulte Zoologen, denen es natürlich auch an Sinn und Neigung zur Lösung praktischer Fragen nicht fehlen dürfte, sich der höchst dankenswerthen Arbeit unterziehen würden, wenigstens die technisch hervorragendsten animalischen Rohstoffe, z.B. die in der Gerberei verwendeten Thierhäute, eingehend zu studiren. Wie ich schon oben andeutete, so geben die technisch verwendeten Mineralstoffe, da ihre Charakteristik schon durch die Mineralogie und Geognosie erschöpft wird, nach meiner Ansicht der Rohstofflehre fast keine Veranlassung zu speciellen Studien. Doch muſs ich hinzufügen, daſs dies eine Sache ist, in welcher ich mich als Botaniker doch zu wenig competent fühle, als daſs ich ein endgültiges Urtheil fällen könnte. Einstweilen muſs ich es noch dahin gestellt sein lassen, ob nicht auch diese Stoffe eine technische und dabei doch streng wissenschaftliche Bearbeitung zulassen, welche über die Grenzen der Mineralogie und Geognosie hinausgeht. Zum Schlüsse sei es mir gestattet, mich über die Rohstofflehre als Lehrgegenstand der Wiener technischen Hochschule, über die Art, wie ich diesen Gegenstand vortrug, und über die bisher erzielten Lehrerfolge auszusprechen. Im Lectionskatalog erscheint die technische Rohstofflehre unter dem durch das organische Statut der technischen Hochschule festgestellten Titel „Waarenkunde“. Sie gehört unter die obligaten Fächer der chemischen Fachschule, ist Gegenstand der Staatsprüfung und der strengen Prüfung (Diplomsprüfung) für Chemiker. Der Gegenstand wird durch beide Semester gelehrt; das erste ist der Methode der Untersuchung und den structurbesitzenden Pflanzenstoffen, das zweite den structurlosen Pflanzenstoffen und den Thierstoffen gewidmet. Die Stundenzahl in der Woche beträgt zwei, dazu kommt noch eine wöchentliche Uebungsstunde. Bei der an der technischen Hochschule herrschenden Lernfreiheit steht es den Studirenden jederzeit frei, den Gegenstand zu hören. Der den Chemikern empfohlene Lehrplan verlegt die technische Waarenkunde aber in das vierte Jahr, was ganz zweckmäſsig ist, da die Studirenden zu dieser Zeit, wenn sie sich nach dem Lehrplan hielten, alle vorbereitenden Fächer (Botanik, Zoologie, Chemie und Physik) bereits gehört haben. Die Studirenden richten sich auch fast durchwegs nach dem Lehrplane. Der Vortrag wird durch Vorführung der besprochenen Rohstoffe und passende Präparate anschaulich gemacht. Die Uebungsstunde hat den Zweck, die im Vortrage vorgekommenen Rohstoffe nochmals vorzulegen und die Studirenden in die Untersuchung praktisch einzuführen. Sämmtliche mikroskopische Demonstrationen kommen erst in der Uebungsstunde vor. Auf praktische Einführung in die mikroskopischtechnische Untersuchung wird in der Uebungsstunde das Hauptgewicht gelegt. Die Prüfungsergebnisse haben mir die Ueberzeugung verschafft, daſs die Studirenden die vorgenommenen Rohstoffe mit Sicherheit erkennen, beziehungsweise zu bestimmen vermögen, und daſs sie so viele praktische Kenntnisse in der mikroskopisch-technischen Untersuchung gewonnen haben, daſs sie alle wichtigeren, nur auf diese Weise zu prüfenden Rohstoffe und Fabrikate – wie Stärkearten, Rohfasern, Gespinnste, Gewebe, Papier, Farbhölzer, Gerberrinden u. dgl. – in vertrauenswürdiger Weise zu prüfen im Stande sind. Die Zahl der vorgeführten Rohstoffe ist eine sehr beträchtliche und beläuft sich auf etwa tausend. Darunter befinden sich selbstverständlich nicht nur die für die europäische Industrie wichtig gewordenen und Alles, was, sofern es von technischem Interesse ist, sich in der Praxis erprobt hat, sondern auch eine groſse Zahl von für technische Zwecke vorgeschlagenen Rohmaterialien, welche bezüglich ihrer Brauchbarkeit kritisch durchgenommen werden. So gewinnt der Studirende einen Ueberblick über die Rohstoffe welche der Welthandel, ja man darf sagen, die Natur für die Industrie verfügbar hält, und ein richtiges Urtheil über viele Stoffe, welche in der Praxis noch nicht jene wichtige Rolle spielen, die ihrer Natur nach ihnen zufällt, ferner über Stoffe, welche in den so vorgeschrittenen Industrien Englands und Frankreichs den gebührenden Platz einnehmen, bei uns in Deutschland und Oesterreich aber noch nicht gekannt oder doch nicht richtig gewürdigt werden. Man wird wohl zugeben, daſs eine so eingehende Kenntniſs der Rohstoffe in den Vorlesungen über Technologie, in welcher die Rohstoffe doch nur nebenher behandelt werden können, nicht zu erzielen ist und daſs eine solche Beherrschung der thatsächlich verwendeten und der verwendbaren Rohmaterialien zur technischen Ausbildung unserer Techniker wesentlich beiträgt. Von ganz besonderem Werthe ist aber die den Studirenden in den Vorträgen über technische Rohstofflehre theoretisch und praktisch vorgeführte Anwendung der naturhistorischen Untersuchungsmethoden., in erster Linie der mikroskopisch-anatomischen, welche für sie nicht nur in Betreff der Waarenkunde, sondern auch der Technologie, ja für ihren zukünftigen Beruf in vielfacher Beziehung von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit sind. Es könnte vielleicht der Einwurf gemacht werden, daſs Vorträge über Botanik und Zoologie, die ja heute an jeder technischen Hochschule gehalten werden, genügen dürften, um die Techniker mit der so wichtigen mikroskopisch-anatomischen Methode und mit den Pflanzen- und Thierrohstoffen bekannt zu machen. Dieser Einwurf wäre ganz unberechtigt. Die Vorträge über Zoologie und Botanik haben eine ganz andere Aufgabe, und der Lehrer dieser Fächer würde seine eigentliche Aufgabe völlig aus dem Auge verlieren, wenn er sich beispielsweise mit der Charakterisirung von Harzen oder Gespinnstfasern beschäftigte, statt die reine Anatomie, Morphologie, Physiologie und Systematik zu lehren, die ihm einen überwältigenden Stoff zum Vortrage und zur Demonstration bieten. Botanik und Zoologie bilden ein unerläſsliches Vorstudium für die Rohstofflehre, aber sie können die letztere nicht ersetzen, wie die reine Chemie die chemische Technologie nicht ersetzen kann, wenn auch ohne Kenntniſs der ersteren ein Verständniſs der letzteren nicht zu erzielen ist. Die groſse Nützlichkeit der technischen Rohstofflehre und die erfreulichen Lehrerfolge, welche ich auf diesem Gebiete erzielte, drängten mich, diese Zeilen der Oeffentlichkeit zu übergeben in der Hoffnung, daſs durch dieselben Anregung zur allgemeinen Einführung dieses Faches als Lehrgegenstand an technischen Hochschulen gegeben werde. Wien, Ende Juni 1880.