Titel: Ueber den Siedeverzug bei Dampfkesseln.
Autor: Whg.
Fundstelle: Band 254, Jahrgang 1884, S. 141
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Ueber den Siedeverzug bei Dampfkesseln. Ueber den Siedeverzug bei Dampfkesseln. Der sogen. „Siedeverzug“ des Wassers in Dampfkesseln hat jüngster Zeit in Frankreich wieder einigen Staub aufgewirbelt. Bekanntlich kann man auf künstlichem Wege einen Siedeverzug u.a. dadurch hervorrufen, daſs man das Wasser mit glühenden Metallflächen in Berührung bringt. Die zwischen Metall und Wasser sich bildende Dampfschicht verhindert eine direkte Berührung und dadurch eine schnelle Wärmeabgabe. Schon vor 35 Jahren hat Boutigny z.B. folgenden Versuch angestellt. Er füllte eine eiserne Flasche, nachdem dieselbe nahezu bis zur Weiſsglut erhitzt war, fast vollständig mit Wasser, ohne daſs dieses verdampfte, und verschloſs die Flasche dann mit einem stark gepreſsten Korkstopfen. Erst einige Zeit, nachdem die Flamme unter der Flasche fortgezogen war und diese sich erheblich abgekühlt hatte, wurde der Pfropfen mit starkem Knall hinausgeschleudert, worauf dann eine sehr heftige Verdampfung folgte. Im J. 1871 berichtete Prof. Melsens, Mitglied der belgischen Akademie der Wissenschaften, in den Bulletins derselben über den gleichen Gegenstand betreffende, von ihm angestellte Versuche. Wie Boutigny glaubt auch Melsens eine groſse Zahl der Dampfkesselexplosionen auf diesen sogen. „Sphäroidalzustand“ des Wassers zurückführen zu müssen. Melsens gab an, daſs derselbe dadurch, daſs man die Metallfläche mit spitzen Vorsprüngen versähe, verhindert werden könnte, und bewies dies durch einen Versuch, welchen er 1883 auf Einladung auch vor der Société d'Encouragement in Paris ausführte (vgl. deren Bulletin, 1883 Bd. 10 S. 507). Ein kleiner Kessel mit rechteckigem Boden, welcher durch eine Wand in zwei gleiche Kammern getheilt war, wurde über einer Anzahl Gasbrenner stark erhitzt. Die eine Kammer hatte vollständig glatte Wände, auf den Boden der anderen waren kleine spitze Metallkegel aufgelöthet. Es wurde dann gleichzeitig in beide Kammern eine gleiche Menge Wasser getröpfelt, so daſs schlieſslich die kleinen Kegel bedeckt waren. In der Kammer mit glatten Wänden kam das Wasser nicht zum Sieden, während es in der anderen Kammer stark kochte und schnell verdampfte. Gerade dieser Versuch beweist jedoch, daſs das Eintreten jenes „Sphäroidalzustandes“ des Wassers in Dampfkesseln höchst unwahrscheinlich ist, da die Innenflächen derselben, namentlich da, wo ein Erglühen möglich ist, doch selten ganz glatt sind. Wie dem auch sei, so kann selbstverständlich ein Erglühen des Kesselbleches immer sehr gefährlich werden und wird daher so wie so stets vermieden (vgl. F. Fischer 1874 213 300). Eine Erscheinung, auf welche hauptsächlich der Ausdruck „Siedeverzug“ angewendet wird, ist die, daſs vollständig luftfreies Wasser unter besonderen Umständen weit über die Verdampfungstemperatur erhitzt werden kann. Von Physikern ist der Versuch häufig ausgeführt worden. Man hat Wasser in luftleeren Gefäſsen bis auf 150°, ja bis auf 200° erwärmt, ohne daſs dasselbe ins Sieden gerieth. Dasselbe gilt auch von anderen Flüssigkeiten. Schwefelkohlenstoff, welcher bei 46,5° siedet, wurde von Gernez (unter Atmosphärendruck) bis auf 150° erwärmt, welche Temperatur einer Dampfspannung von 11at,7 entspricht. Auch dieser Siedeverzug wurde vielfach als eine häufige Ursache von Kesselexplosionen hingestellt, und daſs sehr leicht eine Explosion eintreten kann, wenn ein solcher Siedeverzug in einem Dampfkessel überhaupt möglich ist, liegt auf der Hand. In technischen Kreisen fand diese Ansicht jedoch wenig Anhänger, da zum Gelingen jener Versuche stets sehr sorgfältig gewisse Bedingungen erfüllt werden muſsten, welche bei Dampfkesseln nie erfüllt sein können. So muſsten z.B. die Wände des Gefäſses (in der Regel wurden Glasflaschen benutzt) vollkommen glatt und stetig sein und mit der äuſsersten Sorgfalt gereinigt werden; die Erwärmung muſste sehr gleichmäſsig (in einem Oelbade o. dgl.) vorgenommen werden u.s.w. In neuerer Zeit hat der Schiffscapitän Trève wieder auf die Gefahr des Siedeverzuges hingewiesen, u.a. in mehreren Schreiben an die Pariser Akademie, in welchen er zugleich Mittel zur Verhütung des Siedeverzuges angab. In Folge dessen ersuchte der Minister der öffentlichen Arbeiten die Commission centrale des machines à vapeur, die Sache einer Untersuchung zu unterziehen. Es wurde ein Prüfungsausschuſs ernannt und dieser, aus Fachmännern zusammengesetzt, hat dann seine Aufgabe mit groſser Gründlichkeit behandelt und in den Annales des Mines, 1884 Bd. 5 S. 171 seinen Bericht veröffentlicht. Der Ausschuſs studirte die einschlägige Literatur, sammelte Berichte über Kesselexplosionen, setzte sich mit Trève in Verbindung, lieſs sich von Gernez die Versuche über den Siedeverzug vormachen und stellte endlich selbst eine groſse Reihe von Beobachtungen und Versuchen an. Zunächst wurde aus den statistischen Veröffentlichungen des Ministeriums festgestellt, daſs die Anzahl der „unbekannten Ursachen“ der Kesselexplosionen, auf welche die Anhänger des Siedeverzuges immer hinweisen, in den J. 1878 bis 1882 nur 3 bis 4 Proc. betrug und daſs dieser Procentsatz, welcher früher allerdings wesentlich höher war, stetig um so mehr abgenommen habe, je mehr Erfahrungen man gesammelt und je sorgfältiger man die Untersuchung der einzelnen Fälle ausgeführt habe. Ferner wird von der anderen Seite angeführt, daſs die Explosionen so häufig des Morgens beim Anlassen der Maschine stattfänden, was bei Annahme eines Siedeverzuges sehr einfach zu erklären sei, indem durch das Oeffnen des Dampfventiles das labile Gleichgewicht gestört werde. In dieser Hinsicht wurde ermittelt, daſs von 79 Explosionen, für welche genaue Angaben zu erlangen waren, 23 während des Stillstandes, 50 während des Betriebes, 2 beim Anlassen und 4 in der ersten Viertelstunde nach dem Anlassen stattfanden, und jene beiden in Frage kommenden Explosionen wurden mit Sicherheit durch andere Ursachen erklärt. Weiter wurden alle die Explosionen, welche von Trève und von Anderen insbesondere auf den Siedeverzug zurückgeführt wurden, auf Grund des amtlichen und sonstigen Materials genauer untersucht und in allen Fällen fand man vollständig genügende Erklärungen, ohne den Siedeverzug zu Hilfe nehmen zu müssen. Nachforschungen in technischen Kreisen ergaben gleichfalls keine Anhaltspunkte. Nur ein Ingenieur Obé will zweimal die Beobachtung gemacht haben, daſs an einem Kessel, welcher mehrere Stunden auſser Betrieb gewesen war, das Manometer trotz eines sehr lebhaften Feuers unbeweglich geblieben sei, bis man plötzlich ein sehr schnelles Steigen desselben und zugleich dumpfe Geräusche und Erschütterungen wahrgenommen habe. Der Ausschuſs glaubt jedoch, da alle näheren Angaben über die besonderen Umstände fehlen, hierin keinen Beweis dafür, daſs wirklich ein Siedeverzug stattgefunden habe, erblicken zu können. Man ging nun zu eigenen Versuchen über. Zunächst benutzte man auch gewöhnliche kleine Glasflaschen, um zu ermitteln, ob die umständlichen Vorbereitungen der Physiker zur Hervorbringung des Siedeverzuges wirklich nöthig seien. Man erhitzte reines Wasser, wie auch schwache alkalische und Salz-Lösungen über einem gewöhnlichen Bunsenbrenner, dessen Flamme durch ein Drahtsieb ausgebreitet wurde, konnte jedoch trotz lange fortgesetzter Versuche keinen Siedeverzug zu Stande bringen. Ferner wurde ein Kessel in einer Eisenbahnwerkstätte lange Zeit hindurch des Morgens beim Anlassen der Maschine beobachtet, um die von Einigen gemachte Angabe zu prüfen, daſs nach längerem Stillstande beim Oeffnen des Dampfventiles das Manometer plötzlich mit einem Rucke steige. Es wurde jedoch niemals etwas derartiges wahrgenommen. Da bei einem wenn auch nur schwachen Siedeverzuge immer ein wahrnehmbarer Unterschied zwischen der Temperatur des Wassers und der des Dampfes vorhanden sein muſs, so wurde nun weiter an dem Kessel des Conservatoire des Arts et Métiers in Paris ein besonderer Apparat angebracht, welcher jenen Unterschied selbstthätig aufzeichnete. Derselbe bestand im Wesentlichen aus einer thermo-elektrischen Säule, gebildet aus 30 etwa 450mm langen, um einen Holzcylinder gelegten und an den Enden wechselweise mit einander verlötheten Drähten. Diese Säule wurde so in den Kessel hineingehängt, daſs die unteren Löthstellen im Wasser, die oberen im Dampfe lagen, und ihre Pole wurden mit einem auſserhalb des Kessels befindlichen Galvanometer verbunden. Unter der Nadel desselben wurde durch ein Uhrwerk ein Papierstreifen fortbewegt und ein an der Nadel befindlicher Stift in gewissen Zwischenräumen in das Papier gedrückt. Mit Hilfe eines galvanischen Elementes wurde der Zustand des Apparates zeitweise geprüft, was allerdings sehr nothwendig war, da sich in der That durch die verschiedene Ausdehnung der Drähte einige Löthstellen lösten. Vor dem Gebrauche hatte man durch besondere Versuche den Ausschlag des Galvanometers für bestimmte Temperaturunterschiede festgestellt. Derselbe betrug 1mm,5 für jeden Grad. Auch diese Versuche wurden lange Zeit fortgesetzt. Der Apparat war ununterbrochen, also auch während der jede Nacht stattfindenden langsamen Abkühlung im Gange. Es zeigte sich, daſs durchschnittlich die Temperatur des Wassers allerdings um ein Geringes höher war als die des Dampfes- doch betrug der Unterschied nie über 2°. Der Ausschuſs erklärt dies dadurch, daſs die oberen Löthstellen in gröſserer Nähe der Kesselwand lagen und durch Strahlung mehr Wärme abgaben als die unteren. In einer Nacht jedoch zwischen 1½ und 6 Uhr ist die Nadel des Galvanometers, wie aus den Aufzeichnungen zu ersehen war, sehr erregt gewesen, ohne daſs dafür eine Ursache aufgefunden werden konnte. Es wird erwähnt, daſs an dem vorhergehenden wie an dem nachfolgenden Tage Störungen in der Atmosphäre wahrgenommen wurden. Jedenfalls deuteten die Aufzeichnungen nicht auf einen Siedeverzug hin, da dieselben immer ein ruckweises Ausschlagen und dann folgendes langsames Zurückgehen der Nadel zeigten, während bei einem Siedeverzuge die Nadel hätte langsamer vorgehen und dann bei der Störung des Gleichgewichtes schnell zurückspringen müssen. Endlich richtete man noch einen besonderen kleinen Versuchskessel von 15l Inhalt her, den man sorgfältig reinigte, und kochte das Wasser mit Hilfe geeigneter Vorrichtungen während 200 Stunden aus, um es vollständig luftfrei zu machen. An zwei wagerechten Thermometern, von denen das eine in den Dampfraum, das andere in den Wasserraum reichte, konnten die betreffenden Temperaturen abgelesen werden. Mit diesem Kessel führte man zahlreiche Versuche aus, bei denen man die Bedingungen, welche einem Eintreten des Siedeverzuges günstig sind, möglichst zu erreichen suchte. Man erwärmte den Kessel sehr langsam, dann wieder sehr schnell, öffnete häufig plötzlich den Dampfhahn u.s.w. Man erhielt aber niemals einen über 2° hinausgehenden Unterschied zwischen der Temperatur des Wassers und der des Dampfes, niemals bemerkte man ein plötzliches Springen des Manometerzeigers. Nach Allem gelangte der Prüfungsausschuſs zu dem folgenden Ergebnisse: Es ist bis jetzt in keiner Weise bewiesen, daſs ein Siedeverzug des Wassers eine Dampfkesselexplosion hervorgerufen habe, noch daſs ein solcher jemals in einem in der Industrie verwendeten Dampfkessel aufgetreten sei. Wenn derselbe vorkommt, so ist dies nur möglich in auſserordentlich seltenen Fällen und durch Zusammenwirken von auſsergewöhnlichen Umständen, welche bis jetzt nicht festgestellt sind. Um die Kenntnisse über diese Sache zu erweitern, empfiehlt der Ausschuſs die Anwendung eines Instrumentes, welches gleichzeitig genau die Temperatur des Wassers und die zugehörige Spannung des gesättigten Dampfes anzeigt, vorausgesetzt, daſs dasselbe mit den nöthigen Vorsichtsmaſsregeln benutzt wird. Die Commission centrale schloſs sich diesem Gutachten des Prüfungsausschusses an und damit wird die Angelegenheit wohl für längere Zeit wieder abgethan sein. Whg.