Titel: Allgemeines.Die Thalsperren im Gebirge.
Autor: Intze
Fundstelle: Band 310, Jahrgang 1898, S. 39
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Allgemeines.Die Thalsperren im Gebirge. Vortrag von Prof. Geh.-Rath Intze-Aachen in der 70. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Düsseldorf am 19. September 1898. Die Thalsperren im Gebirge. Der Redner entrollt in seinem Vortrage ein hochinteressantes Bild der umfangreichen Vorarbeiten und Ausführungen, welche vor fast 20 Jahren eingeleitet wurden und in den letzten 10 Jahren in der Rheinprovinz und in Westfalen zur Durchführung gelangten, um die Wasserverhältnisse im Gebirge zu verbessern. Erst in der neueren Zeit sind besonders zwei Momente die Veranlassung gewesen, dass man eine grössere Aufmerksamkeit den Wasserverhältnissen im Gebirge zuwendet. Nachdem die schiffbaren Theile der Wasserläufe in Deutschland und besonders in Preussen mehr und mehr ausgebaut sind und ein regelmässiges Bett erhalten haben, ist die Aufmerksamkeit der Bewohner in den Niederungen durch die Beeinträchtigung, welche diese regulirten Strecken durch Hochwasseranschwellungen und deren Folgen erfahren, auf die Einwirkung gelenkt worden, die hierbei den Wasserläufen im Gebirge zuzuschreiben sein könnte. Andererseits ist im letzten Jahrzehnt eine unerwartete Steigerung des Werthes der Wasserkräfte dadurch eingetreten, dass die Möglichkeit nachgewiesen worden ist, die Wasserkräfte aus dem Gebirge durch elektrische Uebertragung auf grössere Entfernungen hin nutzbar zu machen. Die elektrische Ausstellung in Frankfurt a. M. vom Jahre 1891 hat in dieser Beziehung bekanntlich bahnbrechend gewirkt, da es gelang, auf 177 km Entfernung 75 Proc. derjenigen Leistung nutzbar zu machen, welche am Ursprungsorte bei Lauffen am Neckar durch eine Wasserkraft geboten war, wenn auch damals die hierzu aufgewandten Kosten noch nicht in dem wünschenswerthen Verhältnisse zu dieser Leistung standen, um eine derartige Ausführung als wirthschaftlich berechtigt ansehen zu können. Die seit dieser Zeit entwickelte fieberhafte Thätigkeit der Ingenieure der elektrischen Firmen und derjenigen Maschinenfabriken, welche sich mit der Ausführung von Wasserkraftmotoren befassen, und in dieser Richtung sind erfreulicher Weise deutsche Firmen bahnbrechend vorangegangen, hat zu zahlreichen, durchaus gelungenen Kraftanlagen geführt, welche mit grossem Nutzen selbst auf grössere Entfernungen von 30 bis 50 km Wasserkräfte elektrisch übertragen. Freilich ist hierbei noch der Uebelstand geblieben, welcher den Wasserkräften im Gebirge durch die Schwankungen der Wassermengen anhaftet, und hat man sich daher vorläufig meistens auf die Ausführung solcher Wasserkraftanlagen beschränken müssen, bei denen das Niedrigwasser als ausreichend gross für den vorliegenden Zweck anzusehen war. Sobald es nun gelingt, auch den ebengenannten Uebelstand zu beseitigen oder erheblich zu mildern, d.h. die zur Verfügung stehenden Wassermassen in Gebirgsthälern das Jahr hindurch möglichst gleichmässig auszunutzen, darf man, wenigstens für praktische Zwecke, eine derartig verbesserte Wasserkraft als ein perpetuum mobile betrachten, welches grosse Kraftwirkungen gleichmässig der Welt so lange zur Verfügung stellt, als die Menschheit überhaupt die sonstigen Bedingungen zu ihrer Existenz in den Gebirgsthälern oder in deren Nähe erfüllt sieht. Diese elektrische Kraftübertragung hat noch die grosse Bedeutung, dass die an passender Stelle gesammelten Kräfte in einfacher Weise für Kraft- und Beleuchtungszwecke und für Zwecke chemischer Industrien beliebig und verhältnissmässig leicht vertheilt werden können. Es ist hierdurch ein Mittel geboten, auch in entlegenen Gegenden, wie im Gebirge, die Bevölkerung, welche oft aus Mangel an Beschäftigung gezwungen ist, auszuwandern, auf ihrer heimathlichen Scholle festhalten zu können, indem ihnen daselbst eine lohnende Beschäftigung geboten wird. Die den Wasserläufen im Gebirge anhaftenden, vorhin genannten Mängel drängen selbstverständlich daraufhin, einen Ausgleich der Wassermassen anzustreben, indem die überflüssigen und meistens in ihrem Verlauf nur schädlich wirkenden Hochwassermengen in geeigneten Sammelbecken zurückgehalten und aus denselben in trockener Zeit den Wasserläufen zugeführt werden. Durch diesen Ausgleich wird bis zu einer gewissen Grenze, je nach der Grösse der angelegten Sammelbecken und je nach der Grösse des abgesperrten Gebietes, eine Verminderung der grössten secundlich abfliessenden Hochwassermengen eintreten müssen und damit eine Milderung ihrer Schäden bewirkt werden können. Bis zu welchem Umfange der durch solche Sammelbecken den unterhalb liegenden Gebieten zu gewährende Schutz gegen Hochwasserschäden reichen kann, bedarf natürlich ganz besonderer Untersuchung, und wird dieser Schutz nur in besonderen Fällen von hervorragender Bedeutung sein können. Immer wird aber die Summe der Wirkungen vieler kleiner Anlagen, die aus anderen Gründen geschaffen wurden, auch in dieser Richtung von Bedeutung werden können. Bevor nun an die Verbesserung der Wasserverhältnisse im Gebirge herangetreten werden kann, sind sehr umfangreiche, sorgfältige Vorarbeiten erforderlich, die der Vortragende eingehend darlegt. Er beschreibt sodann in fesselnder Weise die bereits ausgeführten Thalsperren in Rheinland und Westfalen und fasst die Wirkungen, welche eine sachgemässe Aufspeicherung des Hochwassers im Gebirge und die Abgabe desselben in trockener Zeit den Gebirgsbewohnern bietet, wie folgt kurz zusammen: 1) Schaffung gleichmässiger Betriebskraft für die vorhandenen industriellen Werke in den Gebirgsthälern, und Anregung zur Verbesserung und Vergrösserung der Betriebswerke, sowie zur Verwerthung noch ungenutzter Wassergefälle. 2) Gleichmässige Ausnutzung der Arbeitskräfte und Erhöhung ihrer Leistungsfähigkeit. 3) Vergrösserung der sichtbaren Niedrigwassermengen der Wasserläufe und damit verbundenen Verminderung ihrer Verunreinigung. 4) Verminderung der Vereisung der Wasserläufe im Gebirge und der Motoren an denselben durch Entnahme grösserer Menge verhältnissmässig warmen Wassers aus den bekanntlich selten weniger als 5° C. warmen unteren Schichten eines grösseren Sammelbeckens. 5) Förderung der Wasserversorgung der Städte und der Bewässerung der Ländereien. 6) Vergrösserung des Wasserinhaltes der Grundwasserbecken in trockener Zeit. 7) Verminderung der grössten secundlichen Hochwasserabflussmengen und der durch sie veranlassten Schäden. 8) Verschönerung der landschaftlichen Reize der Gebirgsgegend durch grosse Wasserflächen; Förderung der Fischzucht, des Wasser- und des Eissports auf diesen Seeflächen und wesentliche Hebung jeglichen Verkehrs. 9) Schaffung einzelner grösserer Kraftcentralen und Vertheilung der Energie durch elektrische Uebertragung auf grössere Gebiete. 10) Schaffung einer wirthschaftlich gehobenen, ihrer heimathlichen Scholle erhaltenen zufriedenen und glücklichen Bevölkerung der Gebirgsgegenden. 11) Verminderung des Zuzugs von Arbeitern aus den Gebirgsgegenden in die grossen Städte der Niederungen und Verminderung der damit vielfach verbundenen wirthschaftlichen und socialen Misstände. Wenn man bei ruhiger Erwägung und auf Grund nachgewiesener Thatsachen die eben aufgeführten, oft überraschend schnell eintretenden Wirkungen der Sammelbecken in Gebirgsthälern anerkennen darf, so wird man auch zugeben müssen, dass mit der Aufspeicherung der bisher wenigstens theilweise schadenbringend ablaufenden Hochwassermengen nicht nur die Arbeitskraft des ponderablen Wassers rechtzeitig gefesselt und der Menschheit segenbringend dienstbar gemacht wird, sondern dass hierdurch auch die Imponderabilien gepflegt werden können, auf welche gerade das deutsche Gemüth mit Recht so hohen Werth legt. Es ist eine dankbare Aufgabe für alle, die hierbei mitzuwirken berufen sind, die Bestrebungen und Ausführungen zu unterstützen, welche die thatkräftigen weitschauenden Bewohner der schönen Gebirgsthäler Rheinlands und Westfalens in Treue zum Kaiser und Könige, in Liebe zur engeren Heimath und zum deutschen Vaterlande, zum Segen der Nächsten und zur dauernden Wohlfahrt nachkommender Geschlechter vielfach mit grossen Opfern unternommen haben. Der Vortragende gibt schliesslich dem Wunsche Ausdruck, dass die Erforschung und Verwerthung der Naturkräfte, welche das Wasser und die Felsmassen im Gebirge der Menschheit bieten, den zunächst betheiligten Gebirgsbewohnern und allen übrigen Angehörigen des geliebten deutschen Vaterlandes zur Förderung nicht nur des materiellen, sondern auch des geistigen Wohles dienen möchten!