Titel: Der neue Reisewes nach Ostasien.
Autor: F. Thiess
Fundstelle: Band 318, Jahrgang 1903, S. 510
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Der neue Reisewes nach Ostasien. Der neue Reisewes nach Ostasien. Die Eisenbahn von der europäisch-asiatischen Grenze am Ostabhang des Uralgebirges bei Tscheljabinsk durch Sibirien und die Mandschurei bis zum Gestade des Japanischen und Gelben Meeres ist bis auf die Baikal Ringbahn (Umgehungsstrecke des Baikalsees) im Bau vollendet; amtlich wird sie als „Sibirisch-Ostchinesische (Mandschurische) Eisenbahn“Die Ostchinesische Eisenbahn durchschneidet die nördliche Mandschurei: sie bildet das Verbindungsglied zwischen der Transbaikal- und Ussurieisenbahn. Der Bau dieser Linie ist von der Chinesischen Ostbahn Aktiengesellschaft ausgeführt worden, deren Satzungen am 4./16. Dezember 1896 von der russischen Regierung bestätigt wurden. Obgleich die Bahn chinesischss Gebiet durchschneidet, bildet sie ein Unternehmen Russlands, das nach den Satzungen den Chinesen nur Scheinrechte einräumt. bezeichnet, die in Verbindung mit dem russischen und westeuropäischen Bahnnetz ein Glied des grossen Ueberlandweges nach Ostasien bildet (Fig. 1). Textabbildung Bd. 318, S. 510 Fig. 1. Als Endpunkt des Ueberlandweges nach Japan und China wird der von Russland im Südosten der Halbinsel Liautung errichtete Freihandelshafen Dalniy betrachtet. Von dort werden die Dampfer der Ostchinesischen Eisenbahngesellschaft im Anschluss an die aus Europa eintreffenden Sonderzüge den Verkehr zwischen chinesischen und japanischen Häfen unterhalten. Bis zur Baubeendigung der Baikal Ringbahn wird der Verkehr im Sommer aufzwei Dampffähren, im Winter auf Schlitten über den Baikalsee geleitet. Mit den Bauarbeiten der 260 km langen Baikal Ringbahn, die ein gebirgiges Gelände durchschneidet, hat man erst vor etwa zwei Jahren begonnen. Gegenwärtig ist dort der 2 km lange Baikaltunnel noch im Bau begriffen, dessen Vollendung im Jahre 1903 zu erwarten steht. Die Betriebseröffnung wird voraussichtlich im Jahre 1904 stattfinden. Auf der Ostchinesischen Bahn ist die Durchtunnelung des Grossen Chingan GebirgesDer grosse Chingan, ein mächtiges Gebirgsmassiv, erstreckt sich von dem Hochlande, das sich nördlich von Peking erhebt, bis zum Amur. In der Richtung von S. S. W, nach N. N. O. beträgt seine Länge über 1000 km, bei etwa 300 km Breite. Die höchsten Erhebungen erreichen eine absolute Höhe von etwa 1130 m, besitzen aber keine Schneegipfel. von 3,1 km Länge auch noch nicht vollendet. Der Bau dieses Tunnels ist erst nach dem chinesischen Aufstande im Jahre 1901 in Angriff genommen worden und wird voraussichtlich Ende 1903 vollendet sein. Der Eisenbahnverkehr wird dort bis zur Fertigstellung des Tunnels über eine etwa 20 km lange Umgehungsbahn geleitet. Nach Peking besteht eine Verbindung im Anschluß an das Nordchinesische Bahnnetz Inkou-Kobandse-Shanhaikwan-Tongku-Tientsin über Station Taschizao der Südmandschurischen Linie (Fig. 2). Trotz der Lücke am Baikalsee und einiger Ergänzungs- und Erweiterungsarbeiten auf den Sibirischen Bahnstrecken ist es heute möglich, aus Westeuropa über Russland, Sibirien und die Mandschurei, im Eisenbahnzuge das Gestade des Gelben Meeres und die Hauptstadt Chinas in erheblich kürzerer Zeit als auf dem Seewege zu erreichen und von Dalniy aus die Ueberfahrt nach Japan zu bewerkstelligen. Kürzlich ist denn auch der erste Sonderzug aus Moskau in Dalniy mit Fahrgästen eingetroffen, die nach kurzem Aufenthalt ihre Weiterreise nach Japan auf einem Dampfer der Ostchinesischen Eisenbahngesellschaft angetreten haben. Textabbildung Bd. 318, S. 511 Fig. 2. Die russische Regierung steht jetzt im Begriff, den Verkehr über Russland und Sibirien nach Ostasien zu regeln. Für diesen Zweck werden demnächst in fast allen Hauptstädten Europas und in den Zweigniederlassungen der internationalen Schlafwagengesellschaft unmittelbare Fahrkarten verabfolgt werden nach: Mandschuria (Station an der russisch-mandschurischen Grenze), Charbin (neugegründete Handelstadt in der Mandschurei am Ufer der schiffbaren Sungara, Knotenpunkt der Ostchinesischen Bahn mit ihrer südlichen Abzweigung nach Dalniy und Port Arthur), Mukden (Hauptstadt der Provinz Schlöng-king), Jnkou auch Jing-tsze-kou (Handels und Hafenstadt der Mandschurei auf russischem Einflussgebiet am linken Ufer des Liau-ho; mit der Südmandschurischen Linie bei Station Taschizao verbunden); Dalniy, Port Arthur (russischer Kriegshafen im Süden der Halbinsel Liautung), Shanghai, Nagasaki, Peking und Tientsin. Die Giltigkeitsdauer der gewöhnlichen Fahrkarten wird zwei Monate, der Rückfahrtkarten neun Monate betragen. Ausserdem wird die Einführung von Jahresfahrkarten mit vollständiger Beköstigung in Sonderzügen und Von Fahrscheinheften für bestimmte Wegabschnitte (Alexandrowo-Moskau, Moskau–Tscheljabinsk, Tscheljabinsk-Irkutsk u.s.w.) geplant. Für die Reise von China liber Russland nach Westeuropa wird der Fahrpreis in Rubeln, für die entgegengesetzte Richtung in Franks und für die in Deutschland verabfolgten Fahrkarten in Mark berechnet Werden, Wegen Einführung von Fahrscheinheften für eine Rundreise um die Welt beabsichtigt die russische Regierung mit den Dampfschiffahrts- und Eisenbahnverwaltungen Europas, Nordamerikas und Kanadas Vereinbarungen zu treffen. Von der Hauptstadt des Deutschen Reichs sind für die Reise nach Ostasien über Russland, Sibirien und die Mandschurei nach amtlichen Fahrplanbüchern folgende Wegstrecken, nach den Angaben der Vertreter der Eisenbahnverwaltungen auf den Versammlungen in Paris und St. Petersburg (1902) folgende Durchschnittsgeschwindigkeiten und Reisezeiten anzusetzen. Bezeichnung der Wegstrecken Länge der Weg-strecken in km(abgerundet) DurchschnittlicheReisegeschwindig-keit, einschl. derAufenthalte,km in der Stunde Mittlere Reise-dauer in Stunden(abgerundet) Berlin-Alexandrowo   401 60   7 Alexandrowo-Moskau    über Warschau und Brest    Litowsk 1547 55 28 Moskau-Irkutsk    über Tula, Rjäschk, Samara,    Tscheljabinsk 5450 36 152 Irkutsk Mandschuria    durch den Baikaltunnel über    Myssowaja, Werchneudinsk,    Karimskaja (Kaidalowo) 1435 32 45 Mandschuria-Dalniy    durch den Chingantunnel über    Charbin, Mukden, Taschizao 2000 32 63 Mandschuria Inkou    wie vorstehend 1762 32 55 Inkou-Peking    über Kobandse, Schanhaikwan,    Tientsin der Nordchinesischen    Eisenbahn   743 37 20 Von der Hauptstadt des Deutschen Reichs bis zum neuen Freinandelshafen Dalniy kommt eine Wegstrecke von rund 10840 km, bis nach Peking von rund 11340 km in Betracht; für erstere ist eine mittlere Reisedauer von etwa 12 ½ Tagen, für letztere von etwa 13 Tagen anzusetzen.! Die Ueberfahrt von Dalniy nach Nagasaki auf einem Dampfer der ostchinesischen Eisenbahngesellschaft kann in etwa 1 ¾ bis 2 Tagen, nach Schanghai, in 3 ¾-4 Tagen bewerkstelligt werden. Der zeitliche Abstand von London nach Berlin (über Ostende mit dem Nordexpresszug) beträgt 22 Stunden, von Paris nach Berlin (Köln-Stendal) rund 19 Stunden. Die Reise von London und Paris nach Nagasaki wird demnach rund 15 ½ Tage, nach Schanghai rund 17 ½ Tage in Anspruch nehmen. Von westeuropäischen Häfen nach ostasiatischen Küstenplätzen sind auf den bestehenden Dampferlinien durch den Suezkanal oder über New York und San-Francisco bezw. über Halifax, Vancouver und Jokohama für die Reise 3-2 ½ Wochen mehr, als auf dem Wege über Russland, Sibirien und die Mandschurei anzusetzen. Nach Japan wird die Reisezeit noch weiter verkürzt werden, sobald die Eisenbahnen in Korea an die Südmandschurische Linie Anschluss erhalten haben (Fig. 2). Im Jahre 1900 wurde die erste Eisenbahn in Korea von der Hauptstadt Söul nach dem Hafen Chemulpo (42 km) eröffnet, und am 20. August 1901 hat man mit dem Bau der 462 km langen Bahn von Söul nach dem an der Südostküste befindlichen Hafen Fusan begonnen. Diese Linie soll demnächst von Söul in nordwestlicher Richtung bis nach Witschu verlängert und mit der Südmandschurischen Bahn (voraussichtlich bei Taschizao) verbunden werden. Von Fusan wird man dann auf einem Schnelldampfer die Ueberfahrt nach Schimonoseki in 9-10 Stunden bewerkstelligen können. Die in der Tabelle angeführten mittleren Reisegeschwindigkeiten werden erst dann erzielt werden, wenn alle Massnahmen zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Sibirischen Eisenbahn durchgeführt sind. Diese Massnahmen erstrecken sich auf die westlich des Baikalsees befindlichen Bahnstrecken, wo gegenwärtig die leichten Schienen gegen stärkere Querschnitte ausgewechselt, hölzerne Brücken in eiserne umgewandelt, neue Weichenstellen errichtet und die Betriebsmittel ergänzt werden. Die Ergänzungs- und Erweiterungsarbeiten müssen nach einer Regierungsverfügung mit Ablauf des Jahres 1906 beendigt sein. Bis zur Durchführungdieser Arbeiten auf den Sibirischen Bahnstrecken wird man daher mit einer etwas längeren Reisezeit rechnen müssen. Beispielsweise nimmt die Reise zur Zeit von Alexandro wo nach Moskau (einschl. der Aufenthalte) rund 36 Stunden, von Moskau nach Tscheljabinsk rund 62 Stunden, von Tscheljabinsk nach Irkutsk rund 119 Stunden, von Irkutsk nach Mandschuria (einschl. der Beförderung über den Baikal) rund 75 Stunden in Anspruch. Nach Vollendung der Baikal Ringbahn wird ein ununterbrochener Schienenstrang Europa mit Asien verbinden, auf dem sich der Reiseverkehr und der Warenaustausch zwischen dem Westen und Osten vollziehen muss. China, Japan und Korea werden durch diesen Schienenstrang in engere Beziehung zu Europa treten, der Bedarf dieser Länder an europäischen Erzeugnissen wird sich steigern, europäisches Wissen und Vermögen werden ein neues und ausgedehntes Arbeitsfeld in der Erforschung und Verarbeitung der natürlichen Reichtümer der Länder des Ostens finden. Der asiatische Osten bildete bisher für die Völker Europas eine wenig erforschte Welt, dre Jahrtausende ein Leben der Abgeschlossenheit führte: die neue Bahn wird Europa die Wege zu dieser Welt erschliessen und es mit den zahlreichen mongolischen Völkerschaften in Berührung bringen. Nach dem Bericht des Finanzministers Witte sind für Bahnbau (einschl. der Ostchinesischen Eisenbahn) mit allen seinen Neben- und HilfsunternehmungenZu den Neben- und Hilfsunternehmungen gehörten auch die Eisenbahnbauten Jekaterinenburg-Tscheljabinsk und Perm-Kotlas auf europäischem Boden, sowie zahlreiche Unternehmungen, die sich auf das Uebersiedlungswesen, die Gesundheitspflege, das Kirchen- und Schulwesen, die Landeserforschung u.s.w. erstreckten. bisher rund 759 Millionen Rubel oder etwa 1,65 Milliarden Mark angewiesen worden. Diese Summe wird nach Vollendung der Baikal Ringbahn und nach Durchführung sämtlicher Erwei-terungs- und Ergänzungsarbeiten rund 1 Milliarde Rubel oder etwa 2,15 Milliarden Mark betragen. Solche Riesensummen beeinträchtigen gewissermassen in den Augen der Zeitgenossen die Bedeutung des von Russland geschaffenen Kulturwerks, dessen Grösse erst in Zukunft voll gewürdigt werden dürfte. F. Thiess.