Titel: Wie kann die Erschöpfbarkeit selbsttätiger Luftdruckbremsen verhütet werden?
Autor: Ludwig von Löw
Fundstelle: Band 318, Jahrgang 1903, S. 689
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Wie kann die Erschöpfbarkeit selbsttätiger Luftdruckbremsen verhütet werden? Von Ludwig von Löw, Dipl.-Ingenieur. Wie kann die Erschöpfbarkeit selbsttätiger Luftdruckbremsen verhütet werden? Die Erschöpfbarkeit der selbsttätigen Eisenbahndruckluft-und Luftsaugebremsen auf langen Talfahrten wird häufig als der Grund schwerer Unglücksfälle angegeben. Ihretwegen haben einige der bedeutendsten Gebirgsbahnen, z.B. die Gotthardbahn, lange auf die Einführung eines selbsttätigen Bremssystems verzichten müssen und verwenden heute zwei durchgehende Bremssysteme, ein selbsttätiges und ein nicht selbsttätiges. Wir wollen uns im folgenden vergegenwärtigen, dass die durch die Erschöpfbarkeit entstehende Gefahr auf sehr einfache Weise beseitigt werden kann. Textabbildung Bd. 318, S. 689 Fig. 1. Eine einfache Einkammerdruckluftbremse ist in Fig. 1 dargestellt. Der Steuerkolben K und der Schieber S befinden sich in der Ruhestellung, und wir nehmen an, dass der ganze Apparat mit Druckluft gefüllt ist. Wird nun durch den Lokomotivführer der Druck in der „Hauptleitung“ vermindert, so gehen Kolben K und Schieber S solange nach unten, bis soviel Luft vom „Hilfsluftbehälter“ durch den Kanal e in den „Bremszylinder“ eingeströmt ist, dass der Druck auf beiden Seiten des Steuerkolbens K wieder gleich ist, wodurch dieser und der Schieber S in die Ruhestellung zurückkehren. Fährt der Zug ein langes Gefälle hinunter, so wird infolge der unvermeidlichen Undichtigkeit des Bremskolbens dieser wieder durch seine Lösungsfeder im Bremszylinder zurückgeschoben und die Bremswirkung erschlafft. Nun muss abermals der Druck in der Hauptleitung vermindert werden, damit, wie oben beschrieben, von neuem Druckluft in den Bremszylinder eintritt. Dies kann so oft wiederholt werden, bis der Vorrat des Hilfsluftbehälters verbraucht ist. Alsdann kann eine weitere kräftigere Bremsung nicht eher vollzogen werden, als bis der Hilfsluftbehälter wieder gefüllt ist. Dieses Füllen geschieht durch Druckerhohung in der Hauptleitung, wodurch der Steuerkolben K in die punktierte Lage gebracht wird, und dann die Luft durch den Kanal c in den Hilfsluftbehälter gelangen kann. Gleichzeitig kommt aber auch der Schieber S in die punktierte Stellung und lässt dann durch die Kanäle e und a den geringen Druck, der sich noch im Bremszylinder befindet, entweichen, was das vollständige Lösen der Bremsen zur Folge hat und den Zug, wenn er sich noch im Gefälle befindet, in hohem Grade gefährdet. Die Gefahr liegt also nicht in der durch unvermeidliche Undichtigkeiten entstehenden Erschöpfbarkeit, sondern darin, dass sich die Bremse beim Ergänzen des Arbeitsvorrats vollständiglöst. Dies ist bei den heute verbreitetsten selbsttätigen Bremsen, Einkammer- und Zweikammer- oder Druckluft- und Luftsaugesystemen stets der Fall, weil das Ergänzen des Arbeitsvorrats und Lösen der Bremse auf dieselbe Weise, durch Drucksteigerung in der Hauptleitung, bewirkt wird; und zwar muss das Lösen dem Füllen um ein Geringes vorausgehen, weil sich sonst, wie aus einer Betrachtung der Fig. 1 zu erkennen ist, die Bremse überhaupt nicht losen würde. Um die beschriebene Gefahr zu verhüten, brauchen wir also nur dafür zu sorgen, dass sich die Bremse beim Nachfüllen des Hilfsluftbehälters nicht löst. Dies geschieht in der einfachsten Weise dadurch, dass wir den Kanal a der Fig. 1 durch einen Hahn abschliessen. Nun kann der Hilfsluftbehälter beliebig oft nachgefüllt werden, aber die Bremse lässt sich nicht eher wieder lösen, als bis der Hahn von Hand geöffnet ist. Hierdurch wird die Manövrierfähigkeit des Bremssystems in unangenehmer Weise eingeschränkt und es kann, besonders bei langen Zügen, leicht ein ungewolltes Anhalten eintreten. Es ist daher nötig, dass dieses Abschlussorgan von der Lokomotive aus betätigt werden kann und wir verwenden an Stelle eines Hahnes das durch Fig. 2 dargestellte Ventil, dessen Anbringung an der Bremse Fig. 3 kennzeichnet. Das Lösen geschieht nun dadurch, dass in der Hauptleitung ein gewisser Druck erreicht wird, durch dessen Wirkung auf den Kolben m die Feder oberhalb des Ventils v zusammengedrückt wird und dann die Luft des Bremszylinders durch das Ventil v ins Freie ausströmen kann. Ein solches sogenanntes Rückhaltventil kann leicht ohne weitere Umänderungen bei den meisten Bremssystemen angeschlossen werden. Textabbildung Bd. 318, S. 689 Fig. 2. Textabbildung Bd. 318, S. 689 Fig. 3. Wir können aber auch ohne Anwendung eines Rückhaltventils jedes selbsttätige Bremssystem gefahrlos nachfüllen. Es kommt nur darauf an, dass wir die Funktionen: Ergänzen des Arbeitsvorrats und Lösen der Bremse, von einander trennen, indem wir sie durch verschiedene Kräfte bewerkstelligen. Ein Bremssystem, bei dem das Nachfüllen des Hilfsluftbehälters durch langsame und das Lösen der Bremse durch rasche Drucksteigerung in der Hauptleitung erfolgt, ist durch Fig. 4 illustriert. Der Kanal c mündet hier unterhalb der Ruhestellung des Steuerkolbens K, sodass nach jeder Bremsung, die ebenso wie in Fig. 1 stattfindet, der Hilfsluftbehälter sofort nachgefüllt werden kann. Da sich langsame Drucksteigerungen durch den Kanal c auch oberhalb des Kolbens K fortpflanzen, so hat dieser nur Veranlassung noch weiter nach oben Zu gehen und dadurch das Lösen der Bremse zu bewirken, wenn die Drucksteigerung sehr plötzlich auftritt. Es ist wesentlich, sowohl für das Anlegen, als auch für das Lösen der Bremsen, dass der Kanal c eng ist. Textabbildung Bd. 318, S. 690 Fig. 4. Da diese rasche Drucksteigerung besondere Einrichtungen auf der Lokomotive erfordert und bei langen Zügen leicht ihren Zweck nicht erreichen würde, so ist es vorteilhafter, auch hier das Lösen der Bremse durch Ueberschreiten eines gewissen Leitungsdruckes einzuleiten. Zu diesem Zweck müssen wir, wie Fig. 5 zeigt, an dem Schieber S noch einen Kolben k anbringen, der im Verhältnis zu K sehr klein ist. Dem Druck auf k hält die Feder f derart das Gleichgewicht, dass bei einem gewissen Druck, Lösungsdruck, der Schieber so hoch gehoben steht, dass sein Hohlraum die Kanäle e und a verbindet, was das Lösen der Bremse verursacht. Textabbildung Bd. 318, S. 690 Fig. 5. Anstatt den Kanal c durch den Kolben K steuern zu lassen, kann dies auch durch den Schieber S geschehen (siehe Fig. 6) und ist dann vorteilhaft, wenn ein Bremssystem so konstruiert werden soll, dass mit ihm sowohl Betriebswie Gefahrbremsungen vorgenommen werden können. Textabbildung Bd. 318, S. 690 Fig. 6. Betriebsbremsungen werden dadurch erzeugt, dass auf der Lokomotive wenig und Gefahrbremsungen dadurch, dass viel Luft aus der Hauptleitung ausgelassen wird. Die starke Druckverminderung in der Hauptleitung hat dann meist noch zur Folge, dass sich an jedem Bremsapparat Organe öffnen, die entweder die Luft der Hauptleitung mit dem Freien oder auf kurze Zeit mit dem Bremszylinder verbinden. Der erstere Fall hat nur ein rasches Entleeren der Hauptleitung zur Folge, während im zweiten Fall auch gleichzeitig ein rascheres Füllen der Bremszylinder erreicht wird. Da diese Schnellwirkungsorgane an jedem einzelnen Fahrzeug erst infolge der starken Druckminderung in Tätigkeit treten, so ist es wunderbar, dass von der stark verminderten Leitungsluft überhaupt noch ein Teil in den Bremszylinder, der doch schon mit dem Hilfsluftbehälter in Verbindung steht, überströmt. Wenn trotzdem die Wirkung solcher Bremssysteme eine vorzügliche ist, so kann dies nur daher rühren, dass die Einströmorgane zum Bremszylinder für Gefahrbremsungen viel grösser sind, als die für Betriebsbremsungen. Eine Bremse, die aus dieser Ueberlegung entstanden ist, und bei der verschieden grosse Querschnitte unmittelbar zwischen Hilfsluftbehälter und Bremszylinder liegen, ist in Fig. 7 abgebildet. Bei schwacher Druckminderung in der Hauptleitung bewegen sich die Steuerorgane nach unten, bis der Kolben k1 auf die Feder f1 aufstösst, alsdann strömt die Luft durch das kleine Loch l zum Bremszylinder ein. Bei Gefahrbremsungen wird infolge starker Druckminderung in der Hauptleitung die Feder f1 so zusammengedrückt, dass der Schieber S den ganzen Kanal e frei macht. Gleichzeitig wird nun noch (was aber gegenüber der Wirkung, die durch das Eröffnen des grossen Querschnittes e entsteht, nebensächlich ist) die Leitungsluft durch den Kanäle, die Schiebermuschel und a ins Freie geleitet. Das Nachfüllen des Hilfsluftbehälters und das Lösen der Bremse werden, wie in Fig. 6, getrennt voneinander bewerkstelligt, das Fig. 7, erstere durch Druckerhöhung und das zweite durch Ueberschreiten eines gewissen Lösungsdruckes. Textabbildung Bd. 318, S. 690 Fig. 7. Das in Fig. 8 dargestellte Bremssystem unterscheidet sich von dem eben beschriebenen nur dadurch, dass die Leitungsluft bei Gefahrbremsungen nicht ins Freie, sondern durch den Kanal m der Schiebermuschel zum Bremszylinder geleitet wird, was jedoch auch hier aus demselben Grund, wie bei Fig. 7 nicht sehr wertvoll ist. Natürlich muss sich nun in der Leitung c ein Rückschlagventil befinden, welches sich schliesst, wenn der Druck im Bremszylinder bei Gefahrbremsungen grösser geworden ist, als in der Hauptleitung. Die Leitung c kann jetzt wegen des Ventils v beliebig weit sein. Textabbildung Bd. 318, S. 690 Fig. 8. Textabbildung Bd. 318, S. 690 Fig. 9. Auch bei den Zweikammerbremsen lässt sich die Erschöpfbarkeit beseitigen dadurch, dass man den Gedanken, Füllen und Lösen durch verschiedene Kräfte auszuführen, konstruktiv verwirklicht, wie es durch Fig. 9 angedeutet ist. Behandeln wir nun zunächst diesen Apparat wie ein gewöhnliches Zweikammersystem, so tritt durch Druckverminderung in der Hauptleitung die Bremsung ein, weil die Luft links vom Bremskolben durch die Klappe k entweichen kann, während die rechtsbefindliche eingeschlossen bleibt und dadurch das Anlegen der Bremse hervorruft. Ist die Bremswirkung infolge undichten Kolbenkörpers erschlafft, so muss eine weitere Luftverdünnung in der Hauptleitung eintreten und dies wiederholt sich so oft, bis die Leitung leer ist. Bei dem Füllen der Leitung tritt bei einem gewöhnlichen Zweikammersystem sofort das Lösen der Bremsen ein; hier aber kann die neueingefüllte Luft infolge der Klappe k und des durch die Feder f1 abgeschlossenen Ueberdruckventils v1 nicht auf die linke Seite des Bremskolbens gelangen, sondern tritt durch das Ventil v2 auf dessen rechte Seite und bewirkt dadurch ein erneutes festes Anlegen der Bremse, welches sich solange steigert, bis ein gewisser Leitungsüberdruck erreicht ist, worauf sich die Ventile v1 und v3 öffnen und die Bremse durch die gezeichnete Feder gelöst wird. Mit einem solchen Bremssystem kann also auf zweierlei Weise gebremst werden, entweder wie bei selbsttätigen oder wie bei nichtselbsttätigen Bremsen. Der Vorteil der gefahrlosen Ergänzungsmöglichkeit des Arbeitsvorrats ist hier teuerer erkauft, als bei den Einkammersystemen, denn die durch Fig. 9 veranschaulichte Bremse ist sehr kompliziert gegenüber einer gewöhnlichen Zweikammerbremse, und ausserdem ist es nach sehr kräftigen Bremsungen schwierig, die Bremse zu lösen, ohne dass der Zug stehen bleibt, weil die Drucksteigerung in der Hauptleitung zunächst ein festeres Anlegen der Bremse zur Folge hat. Aehnliche Konstruktionen lassen sich auch für Luftsaugebremsen, Einkammer- sowohl wie Zweikammersysteme ausbilden. Infolge der Ergänzungsmöglichkeit des Arbeitsvorrats bei anliegender Bremse haben solche Bremssysteme nicht den hohen Betriebsdruck nötig, der bei anderen nur zum langen Hintanhalten der Erschöpfung dient. Die Reparaturbedürftigkeit wird daher geringer und die Fortpflanzungsgeschwindigkeitder Bremsung von Fahrzeug zu Fahrzeug grösser, weil das spezifische Gewicht der Pressluft kleiner ist. Die Art und Weise des Lösens der Bremse durch Ueberschreiten eines gewissen Leitungsdruckes bietet noch den Vorteil, dass der Zug nach jedem Anhalten nicht eher abfahren kann, als bis der vorschriftsmässige Betriebsdruck der Bremse erreicht ist, was dann besonders wertvoll ist, wenn bald nach der Abfahrt eine kräftige Bremsung eintreten soll. In Amerika wurden schon im Jahre 1896 Vorrichtungen patentiert, die dasselbe erreichten, wie die im vorstehenden beschriebenen Konstruktionen, dass aber diese amerikanischen Patente eine Verwendung nicht in dem Masse gefunden haben, wie sie es vielleicht verdienten, muss wohl dem Umstand zugeschrieben werden, dass sie stets gleichzeitig noch andere Zwecke verfolgten (z.B. rasches Lösen der Bremse oder selbsttätiges Anlegen der Bremse, wenn der Betriebsdruck langsam sinkt und ein gewisses Mindestmass erreicht u.a.m.), was den Hauptvorteil verdeckte, besonders auch deswegen, weil die konstruktive Ausgestaltung eine sehr komplizierte war.