Titel: Zur Theorie der Wechselstromkreise.
Autor: Leo Lichtenstein
Fundstelle: Band 321, Jahrgang 1906, S. 109
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Zur Theorie der Wechselstromkreise. Von Leo Lichtenstein, Berlin. (Fortsetzung von S. 41 d. Bd.) Zur Theorie der Wechselstromkreise. Wir gehen jetzt weiter zur Betrachtung der Spannungsverteilung in einer einfachen Wechselstromschleife mit Selbstinduktion. Wenn wir von der Stromschleife mit Selbstinduktion sprechen, schliessen wir den Fall der bifilaren Leiterführung aus. Um die Eigentümlichkeiten des Wechselstromes klar hervortreten zu lassen, wollen wir zunächst einen Gleichstromkreis betrachten (Fig. 4). Textabbildung Bd. 321, S. 109 Fig. 4. Ist J der Strom, w der Widerstand des Stromkreises, w1 derjenige eines Leiterstückes AB, so ist die Maschinenspannung E = w . J, die Spannung zwischen A und B E1= w1 . J. Wie gross ist nun die Spannung zwischen den Punkten A und B bei Wechselstrom? Sie ist nicht mehr, wie bei Gleichstrom, gleich w1j1, da bei Wechselstromkreisen mit Selbstinduktion ausser dem „ohmschen“, noch der „induktive“ Spannungsabfall auftritt. Ist dieser, für den ganzen Stromkreis berechnet, gleich E2 = 2πJ . L, so liegt es nahe, jedem Leiterstück einen seiner Länge proportionalen induktiven Spannungsabfall zuzuschreiben. Ist die Länge des Leiterstücks AB (Fig. 4) gleich l1, die der ganzen Stromschleife l, so hätte man mit einem induktiven Spannungsabfall zwischen den Punkten A und B \frac{l_1}{l}\,E_i=2\,\pi\,\sim\cdot J\cdot L\cdot \frac{l_1}{l} zu rechnen. Der gesamte Spannungsabfall oder die „Potentialdifferenz“ an AB würde danach \sqrt{(w_1\,J)^2+\left(2\,\pi\,\sim\cdot J\cdot L\cdot \frac{l_1}{l}\right)^2} betragen. Diese Art den induktiven Spannungsabfall längs der Stromschleife zu verteilen, versagt, sobald man zu den Stromkreisen übergeht, deren einzelne Leiter nicht denselben spezifisghen Widerstand haben; als Beispiel mögen in erster Linie angeführt werden Stromschleifen, die aus Fahrleiter und Schiene bestehen. Denn es könnte zweifelhaft erscheinen, ob man auch hier den induktiven Spannungsabfall einfach der Länge proportional setzen kann. Man könnte sogar bestimmt sagen, dass bei der Schiene, der höheren Permeabilität wegen, der induktive Spannungsabfall bei gleicher Länge grösser, als bei dem Fahrleiter ausfallen müsste. Nun, wir haben an anderer Stelle bereits gesehen, dass die Festsetzung eines Selbstinduktionskoeffizienten pro Längeneinheit nicht eindeutig möglich ist. Wir können daher im voraus sagen, dass auch die Aufgabe, den induktiven Spannungsabfall längs der Stromschleife zu verteilen, nicht eindeutig lösbar ist. Wir überzeugen uns davon durch folgende einfache Ueberlegung. Hat der „gesamte Spannungsabfall“ zwischen A und B (Fig. 5), d.h. die geometrische Summe des „ohmschen“ und des zu bestimmenden „induktiven“ Spannungsabfalles einen bestimmten eindeutigen Wert, so muss es möglich sein, den zuerst genannten Spannungsabfall durch geeignete Vorkehrungen experimentell zu bestimmen. Ist dies nicht möglich, so kann man von einem Spannungsabfall an der Leiterstrecke AB nicht sprechen. Legt man nun an AB ein Voltmeter, so wird dieses je nach der Lage der Zuführungsdrähte verschiedene Werte anzeigen. Es handelt sich hierbei keineswegs um die Beeinflussung des Instruments durch das magnetische Feld des Schleifenstromes, denn dasselbe Verhalten wird man beobachten, wenn der Spannungszeiger von der Stromschleife weit entfert liegt. Diese Erscheinung ist sehr leicht zu erklären. Textabbildung Bd. 321, S. 110 Fig. 5. Betrachten wir die Stromschleife ABCD und bezeichnen den Strom im Leiter AB mit J, den Strom in den Spannungsdrähten mit i, den Widerstand des Leiterstückes AB mit W, den Widerstand des Voltmeters mit w, die durch den Stromkreis ABCD hindurchgehende Kraftlinienzahl mit N. Da in ABCD wirksame elektromotorische Kräfte nicht vorhanden sind, so gilt nach den Sätzen von Kirchhoff und Helmholz die Gleichung J_t\,W-i_t\,w=-\frac{d\,N_t}{d\,t} i1w ist die von dem Voltmeter angezeigte Spannung V_s=+J_t\,W+\frac{d\,N_t}{d\,t} Aendert man nun die Lage der Spannungsdrähte, mithin den Flächeninhalt der Stromschleife ABCD, so wird gleichzeitig Nt, folglich auch Vs geändert. Wir sehen also tatsächlich, dass die Angaben des Voltmeters von der Lage der Spannungsdrähte abhängen. Die „Spannung zwischen zwei Punkten einer Wechselstromschleife“ ist kein eindeutig definierbarer Begriff. Legen wir jetzt die beiden Zuführungsdrähte direkt an den Leiter AB (Fig. 6), so wird Nt = 0 und V s = + J t W. Schaltet man das Voltmeter so, wie in Fig. 6 angegeben ist, so misst man den ohmschen Spannungsabfall des betrachteten Leiterstückes. Der ohmsche Spannungsabfall ist also eindeutig definiert und messbar. Textabbildung Bd. 321, S. 110 Fig. 6. Bei der Projektierung der Leiteranlagen für Wechselstrombahnen wird bisweilen verlangt, dass die Potentialdifferenz zwischen zwei beliebigen Punkten der Schiene einen bestimmten Höchstwert nicht überschreitet. In diesem Falle ist als „Potentialdifferenz“ der ohmsche Spannungsabfall in den Schienen JtW anzusehen. Von einer Potentialdifferenz im eigentlichen Sinne des Wortes kann bei Wechselstrom, wie wir gesehen haben, natürlich nicht die Rede sein. Textabbildung Bd. 321, S. 110 Fig. 7. Im Anschluss an das soeben erörterte wollen wir folgende Betrachtungen anstellen. Denken wir uns den Stromkreis ACDF (Fig. 7) in bestimmte Anzahl Teile zerlegt und messen nach der in Fig. 6 angegebenen Schaltung die „Potentialdifferenz“ oder den „ohmschen Spannungsabfall“ J. W (Effektivwert) nacheinander zwischen AB, BC, CD, DE, EF. Die gemessenen Spannungen bezeichnen wir mit V1, V2, – – – V5. Die Maschinenspannung sei V. Bei Gleichstrom ist offenbar V=J\,W=\sum_{n=1}^5\,J\,W=V_1+V_2+\_\,\_\,\_+V_5. Bei Wechselstrom ist aber V=\sqrt{J\,W^2+(2\,\pi\,\sim\,L\,J)^2}\,>\,J\,W, d.h. V > V1 + V2 + – – – + V5. Wir wollen noch eine Eigentümlichkeit der Wechselstromkreise erwähnen. Betrachten wir eine Stromverzweigung Fig. 8. Textabbildung Bd. 321, S. 110 Fig. 8. Sind die Widerstände der beiden parallel geschalteten Zweige ABCD und AFED nicht gleich, ist z.B. w1 > w2, so sind auch die Teilströme ungleich J 1 < J 2 . Bei Gleichstrom ist nach dem ohmschen Gesetz immer J1w1= J2w2; bei Wechselstrom ist dagegen J1w1> J2w2 . . . . . . . . . . 14) Der Leiter von grösserem Widerstand führt mehr Strom, als aus dem ohmschen Gesetz unter Zugrundelegung der Wechselstromwiderstände sich ergeben würde. Man kann auch anders sagen. Sind die Widerstände der beiden parallel geschalteten Zweige bei Wechselstrom ungleich, so sind auch die ohmschen Spannungsabfälle der Leiter nicht gleich. Betrachtet man also, wie bei Gleichstrom, den „ohmschen Spannungsabfall“ eines Leiters als „Potentialdifferenz seiner Endpunkte“, so würde man bei Wechselstrom auf Widerspruch stossen, indem das Potential des Punktes D verschieden ausfallen würde je nach dem Weg, den man zwischen A und D einschlägt. Wir sehen also nochmal, dass bei Wechselstrom von einer „Potentialdifferenz“ zwischen zwei beliebigen Punkten des Stromkreises nicht die Rede sein kann. Die in der Ungleichung 14) ausgesprochene Eigenschaft ist leicht zu beweisen. Betrachten wir den Stromkreis ABCDEF. Nach dem verallgemeinerten Gesetz von Kirchhoff ist J_1\,w_1\,\overset{\wedge}{-}\,J_2\,w_2\,\overset{\wedge}{+}\,\frac{d\,N}{d\,t}=0 . . . . 15) Liegen die beiden Leiter parallel und ist überdies w1= w2, so folgt J2 = J2, N = 0, und mithin auch J1w1 = J2w2. Ist jedoch w1 ± w2; J1 ± J2; N ± 0, mithin J1w1J2w2. Die Ungleichheit der Produkte J1w1 und J2w2 wird also durch die Selbstinduktion des Stromkreises bedingt. Liegen die beiden Leiter nicht symmetrisch gegen die Verbindungsgrade AD, so würde die Kraftlinienzahl N auch bei völliger Gleichheit der Ströme nicht verschwinden. Selbst bei w1 = w2 wird also jetzt J1w1J2w2; J1J2 sein müssen. Da bei sinusförmigen Strömen die Phase der induzierten elektromotorischen Kraft \left(-\frac{d\,N}{d\,t}\right) um 90 Grad gegen die des Stromes verschoben ist, so müssen, damit der Gleichung 15) genügt werden konnte, die beiden Ströme J1 und J2 gegeneinander phasenverschoben sein. Wir unterlassen es, auf dieser Stelle auch die Richtigkeit des Sinnes der Ungleichheit 14) zu beweisen. Nachdem wir so die grundlegenden Eigenschaften und Eigentümlichkeiten der Wechselstromkreise besprochen haben, wenden wir uns jetzt der Frage zu, in welcher Weise Messungen an Wechselstromkreisen auszuführen sind. Wir wollen zunächst die wichtigste Frage beantworten, was eigentlich an einem Wechselstromkreis zu messen sei. Wir denken uns zunächst eine einfache Stromschleife (Fig. 1), deren beide Leiter aus Kupfer, oder deren ein Leiter aus Kupfer, der andere aus Eisen besteht. Die Konstanten dieses Stromkreises sind: Widerstand, Selbstinduktion und Kapazität. Die letztere spielt bei den Erscheinungen der Resonanz und der Spannungserhöhung bei plötzlichen Stromschwankungen, sowie bei den Vorgängen der Stromleitung bei sehr langen Hochspannungsanlagen eine wichtige Rolle. Für die Bestimmung der Spannungsverteilung in verhältnismässig kurzen Schleifen, wie sie bei Wechselstrombahnen zur Zeit vorkommen, hat sie keine weitere Bedeutung. Textabbildung Bd. 321, S. 111 Fig. 9. Wie der Widerstand und die Selbstinduktion der Stromschleife (Fig. 9) zu bestimmen sind, ist aus dem im Anfang dieser Arbeit Gesagten sofort einleuchtend. Man führt den sogenannten Kurzschlussversuch aus, d.h. schliesst die Stromschleife am Ende kurz und misst den Strom J, die Spannung an den Klemmen des Generators E und den Verbrauch der Schleife A. Der Wechselstromwiderstand der Schleife ist W=\frac{A}{J^2} . . . . . . 16) Der Leistungsfaktor ist \cos\,\varphi=\frac{A}{J\cdot E} . . . . . 17) die wattlose Komponente der Spannung E sin ϕ = 2π ∾ . J . L . . . . . . . . . . 18) Der Wechselstromwiderstand W ist infolge des Skineffektes grösser als der Gleichstromwiderstand; für Kupfer bei den üblichen Frequenzen um 2 v. H. bis 5 v. H., bei Eisen um 200 v. H. bis 800 v. H., je nach der Stromstärke und der sekundlichen Periodenzahl. Besteht ein Leiter aus Eisen, so berechnet man, nachdem die Selbstinduktion L gefunden worden ist, nach der Formel 5) die äquivalente Permeabilität μ. Damit ist die Untersuchung der Stromschleife vollendet. Eine Bestimmung der Selbstinduktion einzelner Leiter der Schleife oder des Stannungsabfalles in einem Leiter hat nach unseren früheren Auseinandersetzungen keinen Sinn. Textabbildung Bd. 321, S. 111 Fig. 10. In der Praxis begegnet man häufig der Ansicht, man könne den Spannungsabfall in einem Leiter AB (Fig. 10) messen, wenn man die Spannungsdrähte des Voltmeters von dem fraglichen Leiter weit entfernt. In diesem Falle erfahren jene Drähte von den beiden stromführenden Leitern gleich starke Beeinflussung in entgegengesetztem Sinne. Liegen aber die Spannungsdrähte in unmittelbarer Nähe des Leiters AB, so müssten sie im Gegenteil vom Leiter AB wesentlich stärker beeinflusst sein als vom Leiter CD. Diese Ansicht ist durchaus irrig. Um dies zu beweisen, berechnen wir allgemein die Zahl der Kraftlinien N, die von dem Strom J durch die rechteckige Schleife ABEF (Fig. 10), gebildet aus dem Leiter AB und den Spannungsdrähten FE, geschickt wird. Diese lässt sich wie folgt bestimmen: Statt AB und CD denken wir uns zwei im Unendlichen geschlossene geradlinige Ströme von der Stärke J. N1 und N2 seien die von jenen Strömen durch die Schleife ABEF geschickten Kraftflussvektoren. Es ist dann N = N1 + N2. Nach den bekannten Sätzen über das Feld des Stromes in einem unendlich langen geradlinigen Leiter ist N_1=J^{Amp.}\,\left\{2\mbox{ log nat }\frac{d_1}{r}+1,0\right\}\cdot l\cdot 10^4\,(C\,G\,S) N_2=-2\,J^{Amp.}\cdot \mbox{log nat }\frac{d_2}{d_3}\cdot l\cdot 10^4\,(C\,G\,S) N=N_1+N_2=J^{Amp.}\,\left[2\mbox{ log nat }\frac{d_1\,d_3}{d_2\,r}+1,0\right]\cdot l\,10^4\,(C\,G\,S) . . . . . . 19) Diese Kraftlinien induzieren bei Wechselstrom eine elektromotorische Kraft, die das Voltmeter beeinflusst. Liegen die Spannungsleiter von den beiden Leitern AB und D weit entfernt, so wird d1 = d2 und wir erhalten N=J\cdot \left\{2\mbox{ log nat }\frac{r}{d_3}+1,0\right\}\cdot l\cdot 10^4\,(C\,G\,S) 20) Liegt der Draht EF dicht an dem Leiter AB, so wird d2 = d3; \frac{d_2\,r}{d_1\cdot d_2}=1; \mbox{log nat }\frac{d_2\cdot r}{d_3\cdot d_1}=0 und wir erhalten N = J . l . 104 (CGS) . . . . . . . . . . 21) (Schluss folgt.)