Titel: Träger mit kleinster Durchbiegung; Träger mit kleinstem Biegungswinkel am Ende.
Autor: Gustav Kull
Fundstelle: Band 321, Jahrgang 1906, S. 481
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Träger mit kleinster Durchbiegung; Träger mit kleinstem Biegungswinkel am Ende. Von Gustav Kull, Regierungsbauführer. Träger mit kleinster Durchbiegung; Träger mit kleinstem Biegungswinkel am Ende. Im Taschenbuch der „Hütte“ sind unter der Ueberschrift: „Träger gleichen Widerstandes“ die Gesetze angegeben, nach welchen das Widerstandsmoment eines Stabes sich Querschnitt für Querschnitt ändern muss, wenn in jedem einzelnen Querschnitt eine bestimmte maximale Beanspruchung erreicht und nicht überschritten werden soll. Nun kommt es im Maschinenbau vielfach nicht darauf an, dass man über eine bestimmte Beanspruchung des Materials nicht hinausgeht, um dasselbe gegen Bruch zu schützen, vielmehr ist häufig ausschliesslich massgebend das Bestreben, eine möglichst geringe Formänderung zu erhalten, und es wird in diesen Fällen die mit Rücksicht auf Bruchsicherheit als zulässig zu betrachtende Beanspruchung des Materials meist bei weitem nicht erreicht. Bei den Radkörpern von Wechselstrommaschinen z.B. ist es wünschenswert, die Durchbiegung der Welle möglichst gering zu erhalten. In anderen Fällen, z.B. wenn die Länge des Lagerzapfens im Verhältnis zu seinem Durchmesser sehr gross ist, kann es wünschenswert erscheinen, dass der Biegungswinkel β (Fig. 1) möglichst klein werde. Unter diesen Ums0änden hat es keinen Sinn, die Form des Stabes mit der Massgabe zu bestimmen, dass in allen Querschnitten die maximale Anstrengung den gleichen Wert aufweist; es muss möglich sein, Gesetze aufzustellen, welche die zweckmässigste Form eines Trägers bestimmen, speziell für den Fall, dass möglichst kleine Durchbiegung oder möglichst kleiner Biegungswinkel am Ende erstrebt wird. Textabbildung Bd. 321, S. 481 Fig. 1. Textabbildung Bd. 321, S. 481 Fig. 2. Textabbildung Bd. 321, S. 481 Fig. 3. Textabbildung Bd. 321, S. 481 Fig. 4. Eine rohe Betrachtung sei im folgenden angestellt: Gesetzt, zwei einander sehr nahe Querschnitte A und A1 der in Fig. 1 gezeichneten, in der Mitte durch das Polrad 2P belasteten Welle von der Länge 2l seien so schwach, dass im Vergleich mit diesen die ganze Welle als absolut starr betrachtet werden kann. Dann wird sich die in Fig. 2 gezeichnete Formänderung einstellen; die Durchbiegung ist δ. Sind hingegen die Querschnitte B und B1 so schwach, dass im Vergleich mit ihnen die ganze Welle als absolut starr gelten kann, so erhält man eine Formänderung wie in Fig. 3 gezeichnet; die Durchbiegung δ' fällt, wenn die Biegungswinkel ∡ A,A1,B und ∡ B1 sich gleich sind, weit geringer aus, als im Falle der Fig. 2. Man wird auf Grund dieser rohen Betrachtung geneigt sein, auszusprechen, dass Träger, bei welchen es auf möglichst geringe Durchbiegung ankommt, an der Stelle der grössten Beanspruchung, bei A, kräftiger zu halten sind, als gegen die Enden B; d.h. man wird, wenn man bei B eine Beanspruchung von 500 kg/qcm zulässt, bei A nur etwa 300 kg/qcm zulassen. In wieweit dies richtig ist, wird die folgende Untersuchung zeigen. Wir denken uns die Welle bei A durchgeschnitten und eingespannt (Fig. 4). Dann wirkt der Auflagerwiderstand P im Punkte C nach oben. Es soll für das Wellenstück AC von der Länge l die zweckmässigste Querschnittsabnahme bestimmt werden mit der Massgabe, dass fürs erste der Biegungswinkel β, am Ende fürs zweite die Durchbiegung δ ein Minimum wird. Es möge ein bestimmtes Materialvolum V zur Verfügung stehen; der Wellendurchmesser bei A sei d0; er nehme dann gegen C hin ab nach dem Gesetz: d_x=d_0\,\left(\frac{x}{l}\right)^n, . . . . . . 1) wo dx die Grösse des Stabdurchmessers an der um x von C entfernten Stelle des Stabes vorstellt. In dieser Gleichung ist n die Unbekannte. Das Volum der Welle lässt sich nun wie folgt bestimmen (Fig. 4): \begin{array}{rcl}V&=&\int_C^A\,\frac{{d_x}^2\,\pi}{4}\,d\,x=\int_0^1\,\frac{{d_0}^2\,\pi}{4}\,\left(\frac{x}{l}\right)^{2\,n}\,d\,x\\&=&\frac{{d_0}^2\,\pi}{4\,l^{2\,n}}\,\int_0^1\,x^{2\,n}\cdot d\,x=\frac{{d_0}^2\,\pi}{4\,l^{2\,n}}\,\frac{x^{2\,n+1}}{2\,n+1}\,\int_0^1\\&=&\frac{{d_0}^2\,\pi\,l}{4\,(2\,n+1)}\end{array} Hieraus erhält man: {d_0}^2=\frac{4\,V\,(2\,n+1)}{\pi\,l} . . . . . 2) Das Trägheitsmoment der Welle an der Stelle x ist: \Theta_x=\frac{{d_x}^4\,\pi}{64}=\frac{{d_0}^4\,\pi}{64}\,(x/l)^{4\,n} Setzt man in diese Gleichung für d02 den in Gleichung (2) gefundenen Wert ein, so erhält man: \begin{array}{rcl}\Theta_x&=&\frac{16\,V^2\,(2\,n+1)^2\,\pi}{64\,\pi^2\,l^2}\,(x/l)^{4\,n}\\&=&\frac{V^2\,(2\,n+1)^2}{4\,\pi\,l^{4\,n+2}}\,x^{4\,n}\end{array} . . . . . 3) Die zweite Differentialgleichung der Biegungskurve für das Wellenstück AC (Fig. 4) lautet: \frac{\Theta_x}{\alpha}\,\frac{d^2\,y}{d\,x^2}=P\cdot x. Setzt man hierin den in Gleichung (3) gefundenen Wert für Θx ein, so erhält man: \frac{1}{\alpha}\,\frac{V^2\,(2\,n+1)^2}{4\,\pi\,l^{4\,n+2}}\,x^{4\,n}\,\frac{d^2\,y}{{d_x}^2}=P\,x Oder: \frac{1}{\alpha\,P}\,\frac{V^2}{4\,\pi}\,\frac{(2\,n+1)^2}{l^{4\,n+2}}\,\frac{d^2\,y}{d\,x^2}=x^{1-4\,n} Integriert gibt diese Gleichung: \frac{1}{\alpha\,P}\,\frac{V^2}{4\,\pi}\,\frac{(2\,n+1)^2}{l^{4\,n+2}}\,\frac{d\,y}{d\,x}=\frac{x^{2-4\,n}}{2-4\,n}+C . . 4) Für x = l wird \frac{d\,y}{d\,x}=0, daher: 0=\frac{l^{2-4\,n}}{2-4\,n}+C, C=\frac{-l^{2-4\,n}}{2-4\,n} Damit gibt Gleichung (4) \frac{1}{\alpha\,P}\,\frac{V^2}{4\,\pi}\,\frac{(2\,n+1)^2}{l^{4\,n+2}}\,\frac{d\,y}{d\,x}=\frac{1}{2-4\,n}\,(x^{2-4\,n}-l^{2-4\,n}) . 5) Für den Biegungswinkel β am Stabende erhält man aus dieser Gleichung mit x = 0: \frac{1}{\alpha\,P}\,\frac{V^2}{4\,\pi}\,\frac{(2\,n+1)^2}{l^{4\,n+2}}\,\beta=-\frac{l^{2-4\,n}}{2-4\,n} Setzt man alle Glieder, welche die Unbekannte n enthalten, auf die rechte Seite, so erhält man: \frac{1}{\alpha\,P}\,\frac{V^2}{4\,\pi}\,\frac{\beta}{l^4}=-\frac{1}{(2\,n+1)^2\,(2-4\,n)} Es ist nun die Frage, für welchen Wert von n der Winkel β ein Minimum wird. Die rechte Seite der Gleichung ist nach n abzuleiten und die Ableitung gleich null zu setzen: -\frac{4\,(2\,n+1)\,(2-4\,n)-4\,(2\,n+1)^2}{(2\,n+1)^4\,(2-4\,n)}=0 Der Bruch kann nur null werden, wenn der Zähler null wird; also entweder: 2n + 1 = 0; n = – ½; oder (2 – 4n) – (2n + 1) = 0                           n = ⅙ . . . . . . . . . . 6) Der erste Wert für n hat keinen Sinn; mit dem zweiten erhält man für den Durchmesser dx: dx = d0 (x/l) Für die grösste Spannung σx max an der Stelle x erhält man: \sigma_{\mbox{x max}}=\frac{M_x}{W_x}=\frac{P\,x}{\frac{{d_x}^3\,\pi}{32}}=\frac{P\,x\,l/x}{\frac{{d_0}^3\,\pi}{32}\,(x/l)^{1/2}\,l/x} =\frac{P\,l}{{d_0}^3\,\pi}\,\left(\frac{x}{l}\right)^{1/2}=\sigma_{\mbox{0 max}}\,\left(\frac{x}{l}\right)^{1/2} . . 7) Für x=\frac{l}{2} erhält man: σ½ max = σ0 max (½)½ = 0,71 σ0 max Hieraus ist zu ersehen, dass die in Fig. 1 gezeichnete Welle, wenn möglichst kleiner Biegungswinkel verlangt wird, in der Mitte, bei A höher zu beanspruchen ist als gegen die Enden hin, und zwar nach Massgabe des durch Gleichung (7) ausgedrückten Gesetzes. Wird z.B. bei A eine Beanspruchung von 500 kg/qcm zugelassen, so sind zwischen A und C, an der Stelle x = l/2 (Fig. 4), nur 500 × 0,71 = 355 kg/qcm zuzulassen. Aus Gleichung (5) erhält man durch Integration: \frac{1}{\alpha\,P}\,\frac{V^2}{4\,\pi}\,\frac{(2\,n+1)^2}{l^{4\,n+2}}\,y=\frac{1}{2-4\,n}\,\left(\frac{x^{3-4\,n}}{3-4\,n}-x\,l^{2-4\,n}\right)+C' 8) Für x = l wird y = 0; damit erhält man für C'; \begin{array}{rcl}C'&=&-\frac{l^{3-4\,n}}{2-4\,n}\,\left(\frac{1}{3-4\,n}-1\right)\\&=&\frac{l^{3-4\,n}}{3-4\,n}\end{array} Mit x = 0 erhält man für die Durchbiegung δ aus Gleichung (8): \frac{1}{\alpha\,P}\,\frac{V^2}{4\,\pi}\,\frac{(2\,n+1)^2}{l^{4\,n+2}}\,\delta=C'=\frac{l^{3-4\,n}}{3-4\,n} Setzt man alle Glieder, welche n enthalten, auf die rechte Seite, so erhält man: \frac{1}{\alpha\,P}\,\frac{V^2}{4\,\pi}\,\frac{\delta}{l^5}=\frac{1}{(2\,n+1)^2\,(3-4\,n)} Um zu ermitteln, für welchen Wert von n die Durchbiegung δ ein Minimum wird, hat man die rechte Seite der Gleichung nach n abzuleiten und die Ableitung gleich null zu setzen: \frac{4\,(2\,n+1)\,(3-4\,n)-4\,(2\,n+1)^2}{(2\,n+1)^4\,(3-4\,n)^2}=0 Der Bruch kann nur 0 werden, wenn der Zähler null wird; es muss also gelten, da 2n + 1 = 0, n = – ½ auch hier keinen Sinn hat: (3 – 4n) – (2n + 1) = 0                           n = ⅓ Damit erhält man für den Durchmesser dx: dx= d0 (x/l), . . . . . . . . . . 9) und für die grösste Spannung σx max an der Stelle X ergibt sich: \begin{array}{rcl}\sigma_{\mbox{x max}}&=&\frac{M_x}{W_x}=\frac{P\,x}{\frac{{d_x}^3\,\pi}{32}}=\frac{P\,x}{\frac{{d_0}^3\,\pi}{32}\,x/l}\\&=&\frac{P\,l}{\frac{{d_0}^3\,\pi}{32}}=\sigma_{\mbox{0 max}}=\mbox{const.}\end{array} . . 10) Daraus ergibt sich, dass es am zweckmässigsten ist, die in Fig. 1 gezeichnete Welle, wenn sie möglichst geringe Durchbiegung aufweisen soll, in der Weise zu formen, dass in allen Querschnitten die maximale Beanspruchung den gleichen Wert aufweist, d.h. die Welle ist in diesem Falle als „Träger gleichen Widerstandes“ zu berechnen. Es zeigt sich, dass die oben ausgesprochene Vermutung, es sei zweckmässig, die Welle bei A widerstandsfähiger zu machen als bei B, für den vorliegenden Belastungsfall unrichtig ist. Nicht dasselbe wird gelten für eine Welle, welche, wie in Fig. 5, Tab. 1 angedeutet, durch ein für die ganze Länge konstantes Moment M beansprucht wird. Die zweite Differentialgleichung der Biegungskurve lautet in diesem Fall: \frac{1}{\alpha}\,\frac{V^2\,(2\,n+1)^2}{4\,\pi\,l^{4\,n+2}}\,x^{4\,n}\,\frac{d^2\,y}{{d_x}^2}=M Entwickelt man diese Gleichung analog dem Obigen, so erhält man, wenn möglichst kleiner Biegungswinkel β verlangt ist: (1 – 4n) (2n – 1) = 0                           n = 0 Also: dx = d0 = const., und, da auch M const.,: σx = σ0 = const. Der Stab wird in diesem Falle zweckmässig prismatische Form erhalten. Wird möglichst kleine Durchbiegung verlangt, so erhält man: (2 – 4n) – (2n + 1) = 0                            n = ⅙ Also: d_x=d_0\,\left(\frac{x}{l}\right)^{1/6}, und \begin{array}{rcl}\sigma_{\mbox{x max}}&=&\frac{M}{\frac{{d_x}^3\,\pi}{32}}=\frac{M}{\frac{{d_0}^3\,\pi}{32}\,(x/l)^{1/2}}\\&=&\sigma_{\mbox{0 max}}\,\left(\frac{x}{l}\right)^{1/2},\end{array} woraus für x=\frac{l}{2} sich ergibt: \sigma_{\mbox{1/2 max}}=\left(\frac{1}{2}\right)^{-1/2}=1,41\,\sigma_{\mbox{0 max}} Soll also beispielsweise in der Mitte des Stabes (Fig. 5, Tab. 1) die Beanspruchung 700 kg betragen, so ist es zweckmässig, an der Einspannungsstelle nur \frac{700}{1,41}=500\mbox{ kg} Beanspruchung zuzulassen, wenn möglichst geringe Durchbiegung gefordert wird. Für den in Fig. 7, Tab. 1 gekennzeichneten Belastungsfall (Stab auf die ganze Länge gleichmässig belastet durch die Last p . l) lautet die Differentialgleichung: \frac{1}{\alpha}\,\frac{V^2\,(2\,n+1)^2}{4\,\pi\,l^{4\,n+2}}\,x^{4\,n}\,\frac{d^2\,y}{d\,x^2}=\frac{p\,x^2}{2} Tabelle 1. Textabbildung Bd. 321, S. 483 Fig. 5. Fig. 6. Fig. 7. Art der Belastung; Verlangt ist; Rechteckquerschnitt: h veränderlich, b konstant; Rechteckquerschnitt: b veränderlich, h konstant; Beliebiger Querschnitt sich selbstähnlich veränderlich, z.B. Kreisquerschnitt; Kl. Durchbiegung; Kl. Biegungsw.; In jed. Querschnitt gleiches Ist geringster Biegungswinkel am Ende verlangt, so erhält man analog dem Obigen: (3 – 4n) (2n + 1) = 0                           n = ⅓ d_x=d_0\,\left(\frac{x}{l}\right)^{1/3} \sigma_{\mbox{x max}}=\frac{M\,x}{W\,x}=\frac{1/2\,p\,x^2}{\frac{{d_0}^3\,\pi}{32}\,\frac{x}{l}}=\frac{1/2\,p\,l^2}{\frac{{d_0}^3\,\pi}{32}}\,\frac{x}{l} =\frac{M_0}{W_0}\,\frac{x}{l}=\sigma_{\mbox{0 max}}\,\frac{x}{l} Ist kleinste Durchbiegung verlangt, so ergibt sich: (4 – 4n) – (2n + 1) = 0                           n = ½ d_x=d_0\,\left(\frac{x}{l}\right)^{1/2} \sigma_{\mbox{x max}}=\frac{M_x}{W_x}=\frac{1/2\,p\,x^2}{\frac{{d_0}^3\,\pi}{32}\,\left(\frac{x}{l}\right)^{3/2}}=\frac{1/2\,p\,l^2}{\frac{{d_0}^3\,\pi}{32}}\,\left(\frac{x}{l}\right)^{1/2} =\frac{M_0}{W_0}\,\left(\frac{x}{l}\right)^{1/2}=\sigma_{\mbox{0 max}}\,\left(\frac{x}{l}\right)^{1/2} Stellt man dieselbe Berechnung für andere Querschnittsformen an, so erhält man die Tab. 1, in welcher die für „Träger gleichen Widerstands“ gültigen Gesetze zum Vergleich mit eingetragen sind. Bei der Berechnung der Gesetze, nach denen σmax sich Querschnitt für Querschnitt zu ändern hat, wenn möglichst kleine Durchbiegung oder möglichst kleiner Biegungswinkel verlangt ist, ergibt sich die Tatsache, dass, dieselbe Belastungsart vorausgesetzt, die gleichen Gesetze gelten für den Rechteckquerschnitt mit veränderlicher Höhe, den Rechteckquerschnitt mit veränderlicher Breite und den sich selbst ähnlich veränderlichen Querschnitt. Man erhält folgende Tabelle: Textabbildung Bd. 321, S. 484 Belastungsart; Kl. Durchbiegung δ verlangt; Kl. Biegungswinkel β verlangt