Titel: Die Weltausstellung in Lüttich 1905.
Autor: M. Richter
Fundstelle: Band 321, Jahrgang 1906, S. 519
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Die Weltausstellung in Lüttich 1905. Das Eisenbahnwesen, mit besonderer Berücksichtigung der Lokomotiven. Von Ingenieur M. Richter, Bingen. (Fortsetzung von S. 508 d. Bd.) Das Eisenbahnwesen auf der Weltausstellung in Lüttich 1905. Interessant ist die Umsteuerung, die in genau gleicher Ausführung bereits 1900 in Paris an der 2/4 gek. „Schnabel“-Lokomotive derselben Bahn gezeigt worden ist (D. p. J. 1904, 319, S. 89). Es ist nur eine Steuerschraube vorhanden, welche massige Steigung hat und wie gewöhnlich durch ein Handrad bedient wird; auf derselben sitzt der Stein mit Zapfen beiderseits, an welchen das Gabelende der Zugstange für die Hochdrucksteuerung angreift. Nun geschieht aber die Führung des Steins nicht im Steuerbock selbst, sondern in einem in diesem geführten schlittenförmigen, der Länge nach verschiebbaren Rahmen, durch den frei die Spindel hindurchgeht und der am Vorderende die Gabelung der Zugstange der Niederdrucksteuerung fasst. Beim Verstellen der Schraube bewegt sich zunächst der Stein der Hochdrucksteuerung, stösst dann von innen in der Mittellage an das Ende des Schlittens und nimmt diesen mit, so dass sich auch die Niederdrucksteuerung verstellt. Die Stellvorrichtung des Schlittens besteht aus Federriegeln, die in entsprechende Fallen in der Führung einschnappen und durch Kniehebeldaumen beim Anlegen des Steins herausgehoben werden, um die Bewegung frei zu geben. Da nur in den beiden äusseren Grenzlagen diese Feststellung vorgesehen ist, so hat die Niederdruckmaschine für Vorwärts- und Rückwärtsfahrt nur eine einzige unveränderliche Füllung, von beiläufig gesagt, 63 v. H., während die Hochdruckmaschine alle möglichen Füllungen erhalten kann, bis zu 88 v. H.; nach festgelegter Niederdruck-Steuerung, d.h. Rückgang in eine Grenzlage, muss daher wieder vorgegangen werden, um die Hochdrucksteuerung für sich allein zu verstellen in irgend eine Lage zwischen aussen und Mitte. Da somit die Niederdrucksteuerung nur kraftschlüssig mitgeschleppt wird, so ist zum Festhalten derselben während der Auslegung eine Oelverdrängungsbremse vorhanden, die an die Steuerungszugstange der grossen Zylinder vor dem Führerhaus durch eine besondere Stange mit Winkelhebel angehängt ist. Der Kolben derselben ist fein durchlöchert und erlaubt bei seiner Verschiebung der Flüssigkeit nur sehr langsamen Durchtritt, hemmt also energisch ein etwaiges stossweises Ausschlagen des Schlittens während der Verstellung bei Fahrt (Fig. 26). Textabbildung Bd. 321, S. 520 Fig. 26. Untersteuerung der P. L. M.-Bahn. a Kesselmitte; b Hochdrucksteuerung; c Niederdrucksteuerung; d Oelbremse; e Rahmen; Aufriss; Ringel mit Daumen Die Anfahrvorrichtung besteht aus einer einfachen Zuleitung von Frischdampf zum Verbinderaum, der ein auf 6 at gestelltes Sicherheitsventil besitzt; es hat dies vollständig genügt, da die Hochdruckfüllung bis 88 v. H. geht. Folgendes sind einige wichtige Angaben über die Dampfmaschinen und Steuerungen: Hoch-druck Nieder-druck Verhaltnis von \frac{\mbox{Schubstange}}{\mbox{Kurbel}} 9,23 5,51 Kolbenschieberdurchmesser mm 200 280 Grösster Schieberhub 145 125 Ueberdeckung Einströmung   19   34 Ausströmung  – 3     0 Grösste Füllung v.H.   88   63 Schwingungswinkel der Schwinge 47° 45' 40° 30' Querschnitt Kanale EinströmungAusströmung qcm 139 267 Rohre EinströmungAusströmung 113177 177314 Querschnittverhältnisdes Dampfkolbenszum EinströmkanalAusströmkanal 6,52   8,58 EinströmrohrAusströmrohr 8,035,13 12,96  7,29 Blasrohrquerschnitt grössterkleinster qcm 310  87 Inhalt des Verbinderaumes cdm 140 Die Rahmen liegen innerhalb der Räder und sind 28 mm starke Blechplatten, welche versteift sind durch die vordere und hintere Kopfschwelle, durch drei Zwischenverstrebungen, wovon eine aus Blech und die zwei anderen aus Stahlguss bestehen, sowie durch das die beiden Niederdruckzylinder nebst Schieberkästen, Verbinderaum, Drehgestellauflage und Rauchkammersattel bildende Einzelgusstück. Das Drehgestell hat die bekannte Bauart der P. L. M.-Bahn (Fig. 27). Die Druckauflage und Führung geschieht durch einen mittleren grossen, hohlen Halbkugelzapfen, dessen Fuss, von einem umgekehrten hohlen Kegelstumpf gebildet, sich gegen entsprechende Rippen der Niederdruckzylinder anlegt. Der Zapfen kann sich in der Halbkugelpfanne um die wagerechte Längs- und Querachse drehen; um die senkrechte Achse jedoch infolge zweier in der wagerechten Querachse liegender symmetrischer Zapfen mit Rolle in einem Ausschnitt der Pfanne nur dadurch, dass er die letztere mitnimmt. Da nun die Pfanne auf nach links und rechts aufsteigenden Schraubenflächen ruht, so bewirkt diese Drehung ein schwaches Aufsteigen des Vorderteils der Lokomotive und entsprechend einen kraftschlüssigen Rückgang beim Einlenken in die gerade Strecke. Der Pfannensitz selbst aber ruht wieder auf symmetrischen Keilflächen von ⅙ Neigung, welche beiderseits je 34 mm Seitenspiel zulassen und ebenfalls ein schwaches Aufsteigen mit kraftschlüssiger Rückstellung bedingen. Sowohl bei seitlichem, als bei drehendem Ausschlag ist somit Stellkraft in gleicher Weise vorhanden. Textabbildung Bd. 321, S. 521 Fig. 27. Drehgestell der P. L. M.-Bahn. Die Belastung überträgt sich aus der Pfanne nach den Achsbüchsen durch zweiplattige, stark gekröpfte Ausgleichbalken, die sich mit Stellschrauben auf die Achsbüchsen stützen und die umgekehrte starke gemeinsame Längsfeder zwischen sich fassen, wie beim preussischen Drehgestell. Gegen zu starke Schwankungen des Gestells um die wagerechte Querachse, in der die Druckübertragung stattfindet, ist das Gestell mittels einer mittleren Zugstange, die ein Spannschloss enthält und so lang gewählt ist, dass ihr toter Gang den seitlichen Ausschlägen des Gestells Rechnung trägt, hinter dem Gusstück der Niederdruckzylinder, sowie durch eine kurze Gelenkverbindung ebenfalls in der Mittelebene vor dem Zapfen an einer Fussrippe dieses Gusstücks aufgehängt; jedoch hat diese Verbindung so viel Spielraum, dass sie erst bei einer Trennung des Gestells von seinem Zapfen in Wirkung käme. So ist eine einfache Sicherung bewerkstelligt. Die unter den Achsbüchsen hängenden Blattfedern der Triebachsen sind unter sich sämtlich durch Ausgleichhebel verbunden; es ist also die Lokomotive in drei Punkten gestützt. Um die Führung in Kurven zu erleichtern, hat auch die hintere Triebachse Seitenverschiebung von je 7 mm, infolgedessen ist die Kuppelstange der beiden Hinterachsen mit derjenigen zur Vorderachse kugelig verbunden. Die Rückstellung erfolgt auch hier durch Keilflächen von 1/10 Steigung, die durch Stahlkeile zwischen Lagerschale und Achsbüchse gebildet werden. Die Unterteile der Achsbüchsen haben federnde Schmierpuffer. Der Kessel hat gewöhnliche Bauart: Belpaire-Büchse, Rost unter 17° geneigt, vorne Kipprost, Feuergewölbe; Langkessel aus zwei Schüssen, deren vorderer den Dom trägt; Serve-Rohre; lange Rauchkammer mit Ausstattung wie bei der Nordbahn etwa in bezug auf Funkenfänger, Blasrohr usw., ohne Aschfall. Der Regler ist ein doppelsitziges Ventil, das von aussen nach schweizerisch-österreichischer Art (übrigens seit lange bei der P. L. M. eingeführt) mit Zugstange und Hebel durch Stopfbüchse im Dom bedient wird. Von der Ausrüstung ist folgendes zu erwähnen: Die Umsteuerung liegt rechts; wie bei der Staatsbahn, steht also auch der Führer rechts. Als Luftschneicien sind die Vorderwand des Führerhauses durch Zuschärfung in der bekannten Weise, sowie die Rauchkammertür durch starke Wölbung und das Laufblech über der Kopfschwelle durch Abschrägung unter 45° eingerichtet. Der Sandkasten hängt innen am Rahmen beiderseits vor dem mittleren Triebrad und bedient auch nur dieses; er hat Bauart Gresham. Für Gegendampf ist die Wasserleitung von Le Chatelier zum Ausströmrohr der Niederdruckzylinder geführt; ferner ist die Einrichtung für Dampfheizung vorgesehen. Zur Kontrolle der Fahrgeschwindigkeit dient ein anzeigender Geschwindigkeitsmesser, als Flüssigkeitsmesser ausgeführt, sowie ein aufzeichnender Umlaufszähler. Letzterer ist auf allen neueren Lokomotiven der P. L. M. Bahn eingerichtet und wird bei der hier besprochenen Lokomotive (vergl. Fig. 24a) durch die Kurbel des mittleren, linken Triebrades mittels Schleife angetrieben. Es ist ein einfaches Schaltwerk in Verbindung mit einem Uhrwerk. Dieses treibt gleichförmig eine Schreibtrommel so an, dass sie in je 10 Minuten eine Umdrehung ausführt; sie ist mit einem Blatt Papier von entsprechender Einteilung, der Länge nach zehn Teile zu je eine Minute, der Höhe nach Zeilen für zehn Minuten mit Hervorhebung der halben und ganzen Stunden, besteckt. Das Schaltwerk sticht durch zwei Nadeln Kilometermarken, entsprechend der 1 km Wegstrecke vollführenden Zahl der Triebradumläufe, als grössere, und den vierzigsten Teil davon als kleinere Einheit in dem Papier ein und schaltet nach jeder Umdrehung der Trommel eine Zeile abwärts; hier, bei 2,0 m Triebraddurchmesser werden somit Einheiten von 4 und von 160 Umläufen registriert, letztere als Kilometermarken. Ohne ein unmittelbares Bild des Geschwindigkeitsverlaufes zu geben, bietet diese Art der Aufzeichnung gleichwohl vollständigen Aufschluss über denselben und lässt die Berechnung der augenblicklichen Geschwindigkeit für ziemlich kleine Zeitteile wenigstens bei annähernd gleichförmiger Bewegung bequem zu. Die Westinghouse-Bremse, mit der Henry sehen Bauart, und mit Luftpumpe der Bauart von Fives-Lille, bedient durch ein einziges Gestänge sämtliche Räder der Lokomotive, einschliesslich des Drehgestells, im Gegensatz zu den bisher beschriebenen Ausführungen. – Der Tender war nicht mit ausgestellt, fasst jedoch bei 43 t Dienstgewicht auf drei Achsen 20 cbm Wasser und 3½ t Kohlen. Hier die Hauptabmessungen: Zylinderdurchmesser mm 340/540 Kolbenhub 650 Zylinderraumverhältnis 1 : 2,5 Triebraddurchmesser mm 2000 Kesselüberdruck at 16 Heizrohre(Serve) AnzahlLänge (zw. Wänden)Durchmesser mm 138400070 Heizfläche Rohre (innen)Feuerbüchseim ganzen qm 205,755,42221,17 Rostfläche 3,0 Dienstgewicht t 70,70 Reibungsgewicht 50,55 Zugkraft (α = 0,38) kg 6100 Grösste Geschwindigkeit km/Std. 115 Die Ausführung der Lokomotive war sorgfältig und sehr gefällig; der Anstrich war fett olivgrün, im Untergestell dunkel gehalten; die Verzierung durch blanke Messingreifen, wie bei den übrigen, hergestellt. Textabbildung Bd. 321, S. 522 Fig. 28. Fahrt des Zuges 15 (Paris–Marseille) von Laroche nach Dijon am 15. März 1906. Belastung: 222 t hinter dem Tender (26 Achsen) Lokomotive, ⅗ Vierzylinder Verbund No. 2609. In betreff der Gesamtanlage muss aber gesagt werden, dass bei gleicher Leistungsfähigkeit die neuen von Maffei gelieferten bayrischen S ⅗ Lokomotiven einfacher, übersichtlicher (wegen des Barrenrahmens), zugänglicher und noch um 2 t leichter sind. Die von der Massenträgheit herrührenden „störenden“ Bewegungen sind gemessen worden bei 120 km/Std.; sie sind sehr gering und betragen in bezug auf Schlingern und Nicken: Schlingern Nicken Grösstes Moment kg/m 8396 1437 Amplitude (von derGeschwindigkeitunabhangig) mm 0,220 (1 m vor demSchwerpunkt) 0,365 0,663 (in der Dreh-gestellmitte) Von dieser Gattung bestehen jetzt 20 Stück, vertreten durch No. 2601 bis 2620, ausschliesslich zum Dienst auf der Strecke Paris–Dijon bestimmt, welche beim Uebergang über die Côte d'or dauernde Steigungen bis 1 : 125 (8 m/km), und beim Abstieg nach Dijon ein Dauergefälle von diesen Betrag aufweist. Die Züge sind teilweise sehr schwer, teilweise bei massigem Gewicht sehr rasch. Zu den schnellsten gehört Zug 15, welcher sich gewöhnlich aus sieben Wagen (fünf vierachsigen D- und zwei dreiachsigen Gepäckwagen, also 26 Achsen) im Gewicht von 222 t hinter dem Tender zusammensetzt und die rund 160 km lange schwierige Teilstrecke Laroche–Dijon fahrplanmässig ohne Aufenthalt in eine Stunde 58 Minuten, d.h. mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 81,2 km/Std. zurücklegt. (Längenprofil und Fahrbild Fig. 28.) (Vergleichsweise sei bemerkt, dass in Deutschland die Strecke Berlin–Halle bei rund 161 km Länge in zwei Stunden also mit durchschnittlich 80,5 km/Std. durchfahren wird, und zwar von sämtlichen Zügen; jedoch hat sie im Gegensatz zur französischen Strecke ein sehr günstiges Profil.) Wie das Fahrbild zeigt, hält sich die Geschwindigkeit auch auf ungünstigeren Abschnitten über 90, steigt aber naturgemäss nirgends über 100 und fällt auf dem Uebergang über die Côte d'or bis auf 60 km/Std. Letzterer Umstand stempelt jedoch die Lokomotive zur Flachlandmaschine und beweist, dass einerseits ihre Triebräder für diese Steigungen zu gross sind und dass der hohe Eigenwiderstand der Lokomotive neben ihrem grossen Gewicht gerade auf diesen Steigungen sich unangenehm fühlbar macht. Denn gegen diese 220 t hinter dem Tender auf 1 : 125 mit 60 km/Std. nimmt die bereits erwähnte bayrische S ⅗ 300 t hinter dem Tender auf 1 : 100 mit derselben Geschwindigkeit, was eine Dauerleistung von 1330 PS erfordert, so dass die P. L. M. Lokomotive weit hinter der rechnungsmässig zu erwartenden Leistung von 1450 PS (vergl. Tabelle 3 S. 52 d. Bd.) zurückbleibt und nicht einmal die 1330 PS der um 2 t leichteren bayrischen Lokomotive im Betrieb erreicht. Infolge zweimaligen durch Streckenarbeiten erforderlichen Langsamfahrens hatta übrigens der Zug 15 am 15. März 1906, dessen Fahrt durch das Fahrbild dargestellt ist, bei der Ankunft in Dijon drei Minuten Verspätung, was ein Grund mehr gewesen wäre, auf der Steigung das Erreichbare zu leisten. Bei einem so geringen Zugsgewicht wird aber auch auf der Steigung die dritte Kuppelachse nicht ausgenutzt, sondern erweist sich eher als Hemmschuh, so dass die Leistung noch schlechter ausfällt als bei einer nur zweifach gekuppelten Lokomotive. (Fortsetzung folgt.)