Titel: Die Weltausstellung in Lüttich 1905.
Autor: M. Richter
Fundstelle: Band 321, Jahrgang 1906, S. 584
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Die Weltausstellung in Lüttich 1905. Das Eisenbahnwesen, mit besonderer Berücksichtigung der Lokomotiven. Von Ingenieur M. Richter, Bingen. (Fortsetzung von S. 522 d. Bd.) Das Eisenbahnwesen auf der Weltausstellung in Lüttich 1905. Die folgenden drei Bauarten verdienen ein ganz besonderes Interesse. Sie sind sämtlich ⅗ gekuppelte vierzylindrige Lokomotiven von ziemlich gleicher Grösse der Maschine und des Kessels. Wesentlich aber sind sie verschieden durch die Art der Dampfdehnung; eine hat nämlich Heissdampf-Vierlingsmaschine, die beiden anderen dagegen sind vierzylindrige Verbundmaschinen mit Ueberhitzung, und zwar von diesen die eine mit einem Versuchsüberhitzer, der entweder Vor- und Zwischenüberhitzung oder nur die letztere nach Belieben zulässt, – die andere mit Zwischenüberhitzer. Im Betrieb befinden sich als Vertreter derselben drei Muster mit Nassdampfmaschinen. Textabbildung Bd. 321, S. 583 Fig. 29a. Vierzylindrige Heissdampf-Schnellzuglokomotive der belgischen Staatsbahnen. Die belgische Staatsbahn erwirbt sich durch diese Schöpfungen das Verdienst, die Lösung der schwebenden Fragen über die Zweckmässigkeit der Verbindung von Verbundwirkung und Ueberhitzung durch einwandfreie Betriebs- und Versuchsergebnisse herbeizuführen. Bekanntlich kann vorläufig von dieser Frage, bezw. ihrer Lösung nur gesagt werden: „so viel Köpfe, so viel Sinne!“ Wirkliche Vergleichszahlen sind bis jetzt überhaupt nicht vorhanden gewesen, da bisher noch nie dieselbe Bauart einer Lokomotive in mehreren, nur durch die Art der Dampfausnutzung verschiedenen Formen zum Zweck des Vergleichs dem Betrieb übergeben worden ist, abgesehen von einigen vereinzelten Fällen, die jedoch keine Zahlen zu Vergleichszwecken geliefert haben. Man ist daher immer noch auf den Boden der spekulativen Theorie gestellt, bis die Ergebnisse der belgischen Staatsbahn veröffentlicht werden. Erst dann kann mit Sicherheit entschieden werden, ob Zwillings-Heissdampf- oder Verbund-Heissdampfmaschine das zu erstrebende Ideal ist. Hierher gehören folgende drei Lokomotiven: 15). ⅗ gek. Schnellzaglokomotive (Gattung 19) der belgischen Staatsbahnen mit Vierlings-Heissdampfmaschine, gebaut von der Société Anonyme „La Mease“, Lüttich, 1905, Fabriknummer 1893, Betriebsnummer 3303. (Fig. 29a, b). Kennzeichnend für diese Gattung ist die Bauart des I Triebwerks, dessen Zylinder- und Kurbelanlage der Anordnung von Manson auf der Glasgow- und Südwestbahn entspricht (D. p. J. 1901, 316 S. 349), während die Steuerung derjenigen von Webb auf der London- und Nordwestbahn gleicht (D. p. J. 1904, 319, S. 105). Die vier Zylinder, alle vom gleichen Durchmesser (435 mm) treiben die vordere Triebachse und liegen in einer wagrechten Ebene nebeneinander am Vorderende des Kessels. Auch die inneren Zylinder sind geteilt hergestellt und zusammengeschraubt. Ueber denselben, etwas nach aussen zu, liegen die Schieberkästen. Die Schieber sind sämtlich Kolbenschieber mit innerer Einströmung, nach der neueren Bauart Schmidt, die auch bei den 2/4, 3/3, ⅗ gekuppelten Lokomotiven der belgischen Staatsbahnen angeordnet sind, wie bereits besprochen. Der Antrieb der beiden Schieber jeder Seite erfolgt durch je eine einzige, aussenliegende Heusinger-Steuerung, und zwar treibt diese dadurch, dass der Kreuzkopfhebel an einer schwingenden Welle aufgehängt ist, zunächst den inneren Schieber. Die Stange desselben geht aber nach vorn durch und greift mit kurzem Gelenkstück vor dem Schieber an einem zweiarmigen, wagrecht liegenden Hebel an, welcher die Bewegung wieder nach aussen überträgt, indem er an den Kopf der äusseren Schieberstange gelenkig angesetzt ist; sie endet dann hinten blind. Diese die Gegenläufigkeit der Schieber herstellende Verbindung ist sehr kräftig ausgeführt und ziemlich einfach zu nennen. (Fig. 30; vergl. auch Fig. 29a). Das Dichthalten aller Schieberstopfbüchsen ist sehr erleichtert durch den Umstand, dass dieselben infolge der inneren Einströmung nur mit niedrig gespanntem Auspuffdampf in Berührung stehen. Anders ist es bei den Zylinderstopfbüchsen, die dem Volldruck ausgesetzt sind; dieselben haben Metallpackung. Bei der Nassdampfmaschine, Nr. 3302, sind die Zylinder (420 mm Durchmesser) vorn geschlossen, während bei der hier in Besprechung stehenden Heissdampfmaschine (435 mm) bei im übrigen gleicher Bauart die Kolbenstangen vorne durchgeführt sind. (Fig. 29a. gilt für die erstere). Textabbildung Bd. 321, S. 584 Fig. 29b. Vierzylindrige Heissdampf-Schnellzuglokomotive der belgischen Staatsbahnen. Die gewählte Zylinderanordnung, mit Kurbelwinkel jeder Seite von 180° und gegenseitig von 90°, hat vor einer gleichartigen Verbundmaschine den entschiedenen Vorteil der grösseren Einfachheit, die zumal beim Anfahren in Betracht kommt. Ohne konstruktive Verwicklungen, die durch das Anfahrventil, den Ausbau der Steuerung usw. entstehen müssten, ist hier in völlig sicherer Weise eine hohe Anfahrzugkraft gewährleistet. Mit jener teilt sie die Vorteile 1. des gleichförmigen Drehmoments, womit eine Verbesserung der Adhäsionsverhältnisse zusammenhängt, 2. des guten Massenausgleichs, der einen weiteren Ausgleich durch Gegengewichte unnötig macht, und endlich 3. die Vorteilender Schonung der Achslager im wagrechten Sinn infolge der Teilung der Kräfte. Textabbildung Bd. 321, S. 584 Fig. 30. Anordnung der Zylinder und des Triebwerks der ⅗ gek. Vierlingslokomotive. Eine wesentliche Vereinfachung der Maschine, die den mechanischen Wirkungsgrad erhöhen und die Unterhaltung verbilligen würde, neben der leichteren Montierung, wäre der Wegfall der inneren Schieber, so dass nach amerikanischem Muster jedes Zylinderpaar nur noch durch einen Schieber zu bedienen wäre; bei den gleichen Füllungen der beiden Zylinder ginge dies ohne weiteres an. Die übrigens links sitzende Umsteuerung ist natürlich mit Dampfhilfssteuerung versehen und von Hand sowohl durch Hebel, als durch Schraube zu bedienen. Die gekrümmt unter dem Kessel durchgeführte Steuerwelle dient mit ihrer Krümmung als Gegengewicht. Die Kurbelscheiben der Kröpfwelle sind kreisförmig, und die Hälse sind durch einen kräftigen Arm unmittelbar miteinander verbunden. Da alle vier Zylinder mit Hochdruck arbeiten, sind naturgemäss die Einströmrohre gegabelt; die Ausströmröhre führen, zu acht an der Zahl (zwei Ausströmseiten an jedem vier Schieber) durch allmähliche Zuschärfung in das gemeinsame, gestielte Blasrohr. Um die äusseren Zylinder möglichst nahe zusammenzurücken, greifen die Schubstangen an dem Fuss des Triebzapfens an; die erste Kuppelstange sitzt daher darüber, auf dem Kopf des Zapfens, die zweite Kuppelstange nach der Hinterachse führend, wieder darunter, so dass die sonst übliche Kupplung (hintereinander mit gelenkig verbundenen Stangen) durch gebrochene Verbindung ersetzt ist (nebeneinander) was einen etwas ungewohnten Anblick bietet. Das Rahmengestell ist ähnlich demjenigen der oben beschriebenen Lokomotive der P. L. M. Bahn. Die unter den Achsbüchsen hängenden Blattfedern sind untereinander durch Ausgleichhebel verbunden. Diese ruhen in Schneiden; die Hängestangen der Federn sind nach oben verlängert und werden in bügelförmigen Anschlägen am Rahmen geführt. Die Federstütze, seitlich drehbar im Fuss der Achsbüchsen aufgehängt, verhindert durch seitliche Umklammerung des Federbundkopfes die Feder an einem Ausschlag in ihrer Längsrichtung, so dass in allen Teilen genaue Parallelführung des Federgehänges erreicht ist. Die Achsbüchsen haben Stahlgusskörper und Lagerschalen aus Bronze mit Weissmetalleinguss. Das Drehgestell hat dieselbe Bauart, wie dasjenige der bereits beschriebenen ⅖ gek. Lokomotive von Cockerill (No. 7 dieses Berichts). Die Stützung der Lokomotive geschieht somit in drei Punkten. Der grosse, hochliegende Kessel hat keine besonderen Eigentümlichkeiten, vom Ueberhitzer abgesehen. Die über den zwei Hinterachsen zwischen den Rahmen liegende, schmale, aber 2,5 m lange Feuerbüchse hat massige Tiefe, geringe Neigung des Rostes, massig langes Feuergewölbe und Kipprost in der Mitte. Die Decke ist flach, diejenige des Stehkessels rund, mit Versteifung durch Quer- und Stehanker deren vordere Reihe gelenkig ist. Der Langkessel besteht aus drei, nach vorne abnehmenden teleskopischen Schüssen, deren mittlerer den Dom trägt, und ist stumpf mit Winkelring an die vordere Rohrwand angestossen. Der grösste innere Durchmesser ist 1,65 m, die Blechstärke bei 14 at Druck 18 mm. Die Rauchkammer hat nur geringe Länge; das sehr kurze, nicht mit Kappe versehene Kamin ist in dieselbe hinein verlängert, und das Blasrohr mit einem Funkenfangkorb bis zur Kaminmündung in Gestalt eines umgekehrten Pyramidenstumpfes umgeben. Aschfall ist in der Rauchkammer nicht vorhanden. Von den 205 Heizrohren sind 180 solche von Messing bei 50 mm Durchmesser und 25 weite eiserne von 127 mm zur Aufnahme der Ueberhitzrohre, in drei Reihen zu zweimal neun und einmal sieben übereinander. Die Ueberhitzanlage nach Schmidt ist die bekannte. Eine Klappe stellt diese Flammrohre im Stillstand der Lokomotive in der Rauchkammer ab. Der nur 600 mm hohe Dom enthält als Wasserabscheidung eine Querwand, die von zwei Rohren durchdrungen wird, von denen das eine unter dem Kesselrücken auf etwa 2 m Länge sich ausdehnt und zur Sammlung des Dampfes durchlöchert ist. Der Regler hat ein Doppelsitz ventil. Auf dem Stehkessel sitzen vier Sicherheitsventile Bauart Wilson-Klotz. Der Sandkasten hängt vor den vorderen Triebrädern unter dem Laufblech und bedient nur die erste Triebachse. Die Schmierung der Zylinder und Schieber geschieht von zwei Bourdon sehen „telescopompe“ Apparate mit acht Zuleitungen aus. Die Zylinder sind mit Sicherheits-, die Einströmrohre mit Saugventilen versehen. Ein Quecksilber-Pyrometer zeigt dem Führer die im Einströmrohr herrschende Temperatur an; Wasserstandsgläser sind zwei vorhanden. Die Westinghouse-Bremse wirkt einseitig auf sämtliche Räder der Lokomotive, auch auf diejenigen des Drehgestells, dessen Bremszylinder beiderseits in bekannter Weise zwischen den Rädern wagrecht angebracht ist. Der nicht mit ausgestallte Tender ist normaler Bauart; er fasst auf drei Achsen 20 cbm Wasser und 6 t Kohlen. Der Kessel ist mit Asbestmatratzen eingehüllt und mit Eisenblech verschalt. Die Ausführung der Lokomotive, die einen äusserst imposanten Anblick bot, war vorzüglich. Sehr schön und geschmackvoll war auch das Ausstellungsgewand: blass grüngrauer Anstrich oben, schiefergrau an der Rauchkammer und am Radgestell; Zierbänder aus blankem Messing, ebenso die Kaminhaube, feuerrote Kopfschwelle und Laufblechkante. Die Abmessungen sind folgende: Zylinderdurchmesser mm 435/435 Kolbenhub 610 Triebraddurchmesser 1980 Kesselüberdruck at 14Bemerkung. In den Uebersichtstabellen Seite 51 und 52 dieses Berichtes wurde nach der Angabe der Baufirma in ihrem Ausstellungsprospekt der Kesseldruck statt mit 14 mit 15½ at und entsprechend die Zugkraft statt mit 8150 mit 9050 kg eingetragen, was aus den Angaben der belgischen Staatsbahn sich als falsch ergibt. Auf den höheren Dampfdruck hat man wohl wegen der Ueberhitzung verzichtet und denselben der Verbundmaschine der gleichen Bauart überwiesen. Heizrohre Länge (zw. Wänden)AnzahlDurchmesser mm 4000180 + 2550/127 Heizfläche Rohre (innen)FeuerbüchseUeberhitzer (aussen)im ganzen qm 138,8716,8838,95194,70 Rostfläche 3,01 Dienstgewicht t 81,5 Reibungsgewicht 52,5 Zugkraft kg 8150 Grösste Geschwindigkeit km/St. 120 Wie bereits erwähnt, hat diese Lokomotive eine Schwester, No. 3302, die mit Nassdampf arbeitet. Vergleichszahlen sind noch nicht bekannt gegeben worden, wohl aber hat unter anderen Probefahrten eine stattgefunden, die hohe Beachtung verdient, weil sie nicht nur eine grosse Leistungsfähigkeit an sich, sondern auch die vorzügliche Tätigkeit des Schmidtschen Ueberhitzers dartut. Die Fahrt fand statt am 31. Mai 1905 mit dem fahrplanmässigen Schnellzug 610 von Brüssel nach Aas (vor Lüttich). Diese Strecke hat bei 93 km Länge äusserst ungünstige Verhältnisse; sie weist mit einer stärkeren und einer schwächeren Senkung eine dauernde Steigung auf, die den Betrag von 1 : 200 bis 1 : 167 häufig erreicht. Der Zug, im Gewicht von 327,5 t hinter dem Tender, bestand aus 14 Wagen mit 43 Achsen, nämlich 2 dreiachsigen Gepäckwagen als Kopf und Schluss, 11 dreiachsigen Personenwagen der gewöhnlichen belgischen Bauart, und einem eingeschobenen vierachsigen Luxuswagen. Dazu kam das Lokomotivgewicht mit Tender von 82 + 45= 127 t bei der Abfahrt, bei mittleren Vorräten vielleicht 82 + 33 = 115 t; das Gesamtgewicht war daher am Anfang rund 455, gegen Ende der Fahrt etwa 440 t. Die Strecke wurde bei einmaligem augenblicklichem Halten in 1 St. 17 Min. zurückgelegt, somit ein Durchschnitt von \frac{93}{77}\cdot 60=72,5 km/Std. erzielt. Die höchste Geschwindigkeit war 100 km/Std. die höchste gegen Ende der Fahrt erreichte Temperatur des Heissdampfes 338°C, die im Beharrungszustand niedrigste 280°C. Die längste gleichbleibende Steigung, zwischen Landen und Rosoux, von 8 km Länge mit dem Wert 1 : 250 (4‰) wurde mit einer Endgeschwindigkeit von 72 km/Std befahren. Die Temperatur des Heissdampfes ging dabei von den anfänglichen 305° auf 285° herunter, was jedenfalls mit dem erheblichen dauernden Dampfverbrauch in der Weise zusammenhängt, dass mit der grossen Füllung der Ueberhitzer mehr mitgerissenes Wasser zur Nachverdampfung erhält. Der Vergleich mit der Temperatur auf schwächer geneigten Strecken von einiger Dauer, wo sofort eine Hebung derselben einzutreten pflegte, beweist die Richtigkeit dieser Anschauung; auf geringeren Steigungen wurde naturgemäss mit geringeren Füllungen gefahren. Je geringer die Füllung, um so besser daher die freie Dampfwärme, und um so besser auch aus diesem Grund die Wirkung des Ueberhitzers, abgesehen von der grundsätzlichen Verbesserung des thermischen Wirkungsgrades der Dampfdehnung durch die mit grossen Kolbenflächen erreichten geringen Füllungen. Daraus folgt, dass bei grossen Geschwindigkeiten mit kleinen Füllungen die Ausnutzung des Ueberhitzers besser sein muss, als bei geringeren Geschwindigkeiten mit grossen Füllungen, dass also die Heissdampflokomotive für Flachlandbahnen mit grossen Geschwindigkeiten sich am besten eignet. Dies zeigen auch die Ergebnisse mit der preussischen 2/4 gekuppelten Heissdampflokomotive alter und neuer Bauart (D. p. J. 1903, 318. S. 166). Um eine Berechnung der Maschinenleistung auf der erwähnten Dauersteigung von 4 m/km anzustellen, möge die Erfurter Formel w=2,4+\frac{V^2}{1300} angewendet werden, die bis 70 km/Std. bei dreiachsigen Wagen von verhältnismässig geringem Gewicht und ohne Lederbälge, wohl zutreffen mag: w=2,4+\frac{72^2}{1300}+4=10,4kg/t, W = 440 . 10,4 = 4570 kg. N=4570\cdot \frac{72}{3,6\cdot 75}=1220 PS. Bei 195 qm Gesamtheizfläche (einschl. Ueberhitzer) ist dies eine Beanspruchung von \frac{1220}{195}=6,25 PS/qm, was noch keinen übermässigen Wert bedeutet, also jedenfalls mit Sicherheit abgegeben werden kann. (Fortsetzung folgt.)