Titel: Rechts-Schau.
Autor: Werneburg
Fundstelle: Band 332, Jahrgang 1917, S. 214
Download: XML
Rechts-Schau. Rechts-Schau Zum Begriff des Betriebsunfalles. Ueber den Begriff des Betriebsunfalls gehen die Ansichten in der Literatur und Rechtsprechung auseinander. Nach Rosin (Archiv für öffentliches Recht Bd. 3 S. 319 ff.) ist Unfall im Sinne der Unfallversicherungsgesetze (jetzt der R. V. O.) die körperlich schädigende, plötzliche und von dem Betroffenen unbeabsichtigte Einwirkung eines äußeren Tatbestandes auf einen Menschen. „Nicht der äußere Tatbestand, welcher auf einen Menschen körperlich einwirkt (so führt er aus), aber auch nicht der Tod oder die Körperverletzungen, welche durch die Einwirkung verursacht werden, sondern das Ereignis der Einwirkung selbst ist der Unfall. Nicht die Explosion oder Entgleisung, nicht der Fall auf dem glatten Boden der Zuckerfabrik, welcher vielleicht hundertmal ohne Einwirkung geblieben ist, alle diese Tatbestände sind nicht selbst Unfälle; der Unfall liegt vielmehr darin, daß jene Tatbestände im konkreten Fall eine schädigende Einwirkung auf den menschlichen Körper geübt haben. Tod und Körperverletzung sind begrifflich und logisch nicht selbst der Unfall, sondern Folgen desselben.“ Eine andere Ansicht wird von dem Reichsversicherungsamt in seinem Bescheide Nr. 535 A. N. 1888 S. 244 und in der R. E. 1200 A. N. 1892 S. 348 vertreten. In dem ersteren wird nämlich ausgeführt: „Nach dem Sprachgebrauch des Unfallversicherungsgesetzes (jetzt der R. V. O) und in Uebereinstimmung mit der ständigen diesseitigen Praxis ist daran festzuhalten, daß als Unfall im Sinne des § 5 Abs. 2 das Betriebsereignis selbst anzusehen ist, gegen dessen schädigende Folgen für Leben und Gesundheit die Arbeiter versichert sind.“ Dieser Auffassung hat sich auch das Reichsgericht angeschlossen, denn es heißt in dessen Entscheidung vom 6. 7. 1888: „Das Unfallversicherungsgesetz setzt mehrfach Fristen fest,, welche mit dem Ereignis des Unfalles beginnen. Es muß mit dem Worte Unfall ein zeitlich bestimmtes, einzelnes Ereignis gemeint sein, da sonst nicht ermittelt werden kann, von wann ab die Frist zu berechnen ist.“ Die dritte Ansicht wird von dem Reichsversicherungsamt an anderer Stelle (vgl. Amtliche Nachr. d. Reichsversicherungsamtes Bd. 2 S. 230) vertreten. Hier wird ausgesprochen, daß unter Umständen auch in der Tötung oder Körperverletzung selbst der im Gesetz bezeichnete Unfall zu erblicken sei. Uebereinstimmend hiermit heißt es an anderem Ort (vgl. A. N. 1901 S. 176): „Unfall ist die Schädigung der Gesundheit durch ein plötzlich eintretendes Ereignis; im versicherungstechnischen Sinne bezeichnet Unfall nicht das schädigende äußere Ereignis, sondern den dadurch herbeigeführten Schaden.“ Mit dem Reichsgericht ist m. E. anzunehmen, daß als Unfall im Sinne der Unfallversicherungsgesetzgebung (sowohl der öffentlichen wie auch der privaten, also des V. V. G.) das betreffende in Frage kommende Ereignis anzusehen ist. Hierbei wird man sich am zweckmäßigsten der in den Bedingungen des Verbandes der in Deutschland arbeitenden Unfallversicherungsgesellschaften aufgestellten Begriffsbestimmung anschließen können, in denen als Unfall eine ärztlicherseits sicher erkennbare Körperbeschädigung bezeichnet ist, von welcher der Versicherte unfreiwillig durch ein plötzliches, von außen mechanisch auf seinen Körper einwirkendes Ereignis betroffen wird. Es bleibt also die Frage nach diesen hier im einzelnen bezeichneten Begriffsmomenten zu erörtern. Das Moment der Aeußerlichkeit erfordert nach Hager-Bruck (V. V. G. S. 395) das offensichtliche Ueberwiegen von außen her wirkender Ursachen über innere, zum Beispiel Fall, Sturz, Schlag. Piloty (Arbeiterversicherungsgesetze Bd. 2 S. 186) verlangt die objektive Erkennbarkeit des Ereignisses als solchen. Mit seiner Auffassung sachlich stimmt diejenige des Reichsgerichtes überein, denn in dessen Entscheidung vom 29. 6. 1897 (Jur. Wochenschr. 97 S. 454) wird ausgeführt, daß, wenn der ganze Vorgang durch eine infolge Schlaftrunkenheit eintretende Benommenheit des Kopfes oder Wahnvorstellung, also durch einen inneren Vorgang veranlaßt worden sei, erst der Fall in das Wasser als das maßgebende äußere Ereignis anzusehen sei. Auch das Reichsversicherungsamt teilt diese Auffassung des Reichsgerichtes, denn es hat ausdrücklich den Satz ausgesprochen (vgl. A.N. Bd. 4 S. 557, 613), daß kein Unfall vorliegt, wenn nur innere Vorgänge oder Zustände im menschlichen Körper es gewesen sind, die den Tod oder das Leiden herbeigeführt haben . . . „Die Einwirkung“, so sagt es, „muß auf den Körper geschehen. Affektionen der Seele sind keine Unfälle.“ Wie ersichtlich, stimmen die hier angegebenen Definitionen des Momentes der Aeußerlichkeit ihrem Sinne nach überein, so daß sich weitere Ausführungen hierzu erübrigen. Die Ursache muß eben eine von außen her einwirkende sein, innere Ursachen kommen nicht in Betracht. Mit dem Begriffsmerkmal der Aeußerlichkeit steht dasjenige der Plötzlichkeit in nahem Zusammenhange insofern, als beide sich auf das Ereignis beziehen. Den Gegensatz von Plötzlichkeit bildet Langsamkeit, so daß also alle Vorgänge, die sich langsam entwickeln, keinen Unfall im Sinne der Unfallversicherungsgesetze bilden können. Daraus ergibt sich also, daß alle diejenigen Krankheiten des gegen Unfall Versicherten ausscheiden, die sich infolge der schädlichen Einflüsse seines Berufs, mit anderen Worten des ihn umgebenden Arbeitsgebietes, allmählich entwickeln, ferner auch alle diejenigen Krankheiten, die sich aus der körperlichen Beschaffenheit des Versicherten herausbilden. Dagegen brauchen selbstverständlich die mit dem Unfall in Kausalnexus stehenden Folgen des Unfalls keineswegs plötzlich eintretende sein, sie sind für die Frage nach Vorliegen eines Unfalls bedeutungslos. Plötzliche Vergiftung ist zum Beispiel nach der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes Schwefelwasserstoffvergiftung (A. N. Bd. 4 S. 664), allmähliche Vergiftung Phosphornekrose (A. N. Bd. 3 S. 352). Besondere Beachtung in dieser Hinsicht verdient der von Prof. Dr. Lewin (A. N. 1907 S. 274) gehaltene Vortrag über diese Frage von Vergiftungen im Betriebe des Versicherten. Lewin weist zunächst darauf hin, daß der Absicht des Gesetzgebers entsprechend das Merkmal der Plötzlichkeit erfreulicherweise im Laufe der Zeit eine immer weitere Auslegung erfahren habe, daß zum Beispiel Körperbeschädigungen noch als Unfall angesehen worden seien, wenn sie an einem Tage bzw. in einer Arbeitsschicht zustande kamen. Sogar bei einzelnen Vergiftungsfällen habe man eine länger dauernde Einwirkung einer Schädlichkeit in derselben Weise beurteilt. Darin liege jedoch eine Zurücksetzung des Arbeiters, der durch Beschäftigung von zwei oder drei Tagen einen vielleicht schweren Körperschaden davontrage und dessen Leiden als Betriebskrankheit angesehen werde. Lewin befürwortet dann insbesondere die Trennung von Berufskrankheit und Berufsunfall. Diese Frage werde aber grundsätzlich nicht berührt, wenn man Leiden, die ihrem ganzen Werdegange nach andere als mechanische Berufskrankheiten seien, nicht dieser gleichstelle. Solche Leiden seien aber auch die durch Gifte erzeugten. Ob diese Leiden eine besondere Berücksichtigung verdienen, dafür sind nach Lewin die Grundlagen des Zustandekommens desselben entscheidend. Die Lage eines Giftarbeiters mache der Umstand besonders schlimm, daß er nur ganz ausnahmsweise die Gefahr an sich, die ihm durch das Gift droht, kenne, niemals aber ihren Umfang. Dies gelte für Arbeiter, die beruflich in Giftbetrieben arbeiteten, ebenso wie für Gelegenheitsarbeiter. Den Giften sei eine Ausnahmestellung unter allen den Körper betreffenden Schädigungen zuzuerteilen. Die Auslegung laufe darauf hinaus, daß in einer sogenannten chronischen Vergiftung nichts anderes als das Endergebnis vieler einzelner Vergiftungen erblickt werden könne. Die einzelnen Vergiftungen träfen den Arbeiter nicht Stunde für Stunde, nicht Tag für Tag, vom Morgen bis zum Abend. Die sogenannte chronische Vergiftung sei keine kontinuierliche, wie etwa die Aufnahme von Luft in die Lungen, auch keine periodische, sondern eine durchaus von äußeren und individuellen Verhältnissen abhängige aperiodische. Somit gehöre sie nicht. in die Gruppe der Berufskrankheiten. Diesen Ausführungen Lewins ist meines Er-achtens völlig beizustimmen, da sie vor allen der in den Kreisen der Versicherten herrschenden Auffassung über den Umfang des gewährten Versicherungsschutzes am meisten entsprechen dürfte. Denn regelmäßig sind zudem Betriebsunfälle, die den in chemischen Fabriken beschäftigten Arbeitern zustoßen können, ganz allein Vergiftungen bei ihrer Arbeitstätigkeit, der Kreis der Unfälle würde also bei gegenteiliger Auffassung hier ein ganz gering begrenzter sein. Bezüglich der rechtlichen Beurteilung der Bruchschäden hat das Erkenntnis des Reichsversicherungsamtes vom 26. 6. 1905 als Grundsatz aufgestellt, daß der Begriff der Plötzlichkeit hier nicht zu eng. auszulegen sei. Ein Unfall liegt also stets dann vor, wenn vor Austritt der Eingeweide die sogenannte Bruchanlage, d.h. eine über die natürliche eines jeden Menschen hinausgehende Bruchanlage, nicht vorhanden war (vgl. Kgl. Sachs. L. V. A. und R. G. E, vom 16. 2. 1907 Warneyers Jahrb. S. 58). Bei derartiger Sachlage stellt sich eben der Austritt als ein plötzliches Ereignis dar, wie ohne weiteres ersichtlich ist. Nach dem oben zitierten Erkenntnis des R. V. A. ist des weiteren ein Betriebsunfall als vorliegend anzunehmen, wenn der Versicherte bei dem Betriebe durch ein äußeres und plötzliches, dem regelmäßigen Gange eines Betriebes fremdes Ereignis von einer erheblichen Verschlimmerung eines in der Entwicklung begriffenen Leistenbruchleidens betroffen wird. War jedoch eine Bruchanlage bei dem Versicherten von Anfang an vorhanden und stellt sich die Verschlimmerung des Bruchleidens als Folge der regelmäßigen Betriebsarbeit in allmählicher Entwicklung dar, so ist das Begriffsmerkmal der Plötzlichkeit nicht gegeben und ein Unfall mit Entschädigungsanspruch liegt dann eben nicht vor; in diesem Falle handelt es sich also nur um eine Berufskrankheit, nicht um einen Versicherungspflichtigen Unfall. Das dritte Begriffsmoment des Unfalles ist die Unfreiwilligkeit oder Zufälligkeit des Ereignisses. Den Gegensatz zu Unfreiwilligkeit oder Zufälligkeit bildet die vorsätzliche Herbeiführung des Unfallereignisses, so daß also mit anderen Worten alle körperlichen Beschädigungen, die nicht vorsätzlich herbeigeführt worden sind, in den Kreis der unfreiwilligen oder zufälligen Unfallereignisse fallen. „Der Begriff der Zufälligkeit“, so führt Gerkrat (Zeitschr. f. d. ges. Vers. W. 1906 Bd. 6 S. 1 ff.) aus, „im Sinne der Versicherung (überhaupt) ist darnach aber derjenige, bei welchem zufällig ist, was wider die übliche Voraussicht des Einzelfalles und unabhängig von dem Willen des Bedrohten eintritt“. Diese Definition kann jedoch nicht als eine den ganzen Begriff der Unfreiwilligkeit umfassende bezeichnet werden, da nach ihr auch Krankheitsvorgänge mit ihren Folgen hierhin zählen würden, die jedoch nicht unter den Unfallbegriff fallen. Am besten ist meines Erachtens der Begriff der Zufälligkeit einfach negativ dahin zu geben, daß eben alle von dem Beschädigten freiwillig herbeigeführte Körperverletzungen ausscheiden. Ist hiernach der Begriff der Zufälligkeit als gegeben anzunehmen, so ist dann immer noch die weitere Frage zu prüfen, ob ein Betriebsunfall oder eine Berufskrankheit vorliegt. Bezüglich der hier weiter auftauchenden Erage, ob sich der Vorsatz des Verletzten auf den ganzen Unfallvorgang beziehen muß, äußert sich Piloty (Arbeiterversicherungsgesetze S. 189) dahin: „Der Verletzte kann sogar die Einwirkung beabsichtigen, und es bleibt doch ein Unfall, wenn nicht die Absicht gerade auf die schädliche Einwirkung gerichtet war;“ andererseits, daß derjenige, der nur den kleinsten schädlichen Unfall beabsichtigt, von keinem Unfall betroffen ist, wenn auch der Erfolg der schlimmste sein mag. Richtiger, jedenfalls klarer dürfte meines Erachtens jedoch die von Rosin (Das Recht der Arbeiterversicherung S. 316) gegebene Begriffsbestimmung sein, nach der es genügt, „wenn der Beschädigte dem irgendwie in Erscheinung getretenen Tatbestande vorsätzlich eine Einwirkung auf seinen Körper gestattet hat.“ Dagegen schließt selbstverständlich Vorsatz des Betriebsunternehmers, eines Betriebsbeamten, oder eines Dritten das Vorliegen eines Versicherungspflichtigen Unfalles nicht aus. Rechtsanwalt Dr. Werneburg.