Titel: Grundlagen, Grenzen und Gefahren der Normalisierung.
Autor: W. Speiser
Fundstelle: Band 332, Jahrgang 1917, S. 345
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Grundlagen, Grenzen und Gefahren der Normalisierung. Von Dipl.-Ing. W. Speiser, Kladno (Böhmen). SPEISER: Grundlagen, Grenzen und Gefahren der Normalisierung. Allenthalben hat heute der Gedanke erfreulich festen Fuß gefaßt, daß für eine gesunde und kräftige Weilerentwicklung unserer Industrie nach dem Kriege weit größerer Wert als bisher gelegt werden muß auf eine weitgehende Normalisierung in allen Arbeits- und Erzeugungsgebieten, die einer solchen überhaupt zugänglich sind. Ueberall regt es sich in den Kreisen der Industrie, um teils in streng abgeschlossenen Sondergebieten, teils in weitschauender Umfassung großer Erzeugungsgruppen Normen auszuarbeiten, die eine Vereinfachung und Verbilligung und dabei gleichzeitig eine Erhöhung der Brauchbarkeit der Erzeugung bezwecken. Die Vereinigung des Vereines deutscher Ingenieure mit dem königlichen Fabrikationsbüro in Spandau zur Schaffung von „Normalien für den deutschen Maschinenbau“Z. d. V. d. I. 1917 S. 809. dürften zu den umfassendsten und bedeutungsvollsten Maßnahmen in diesem Sinne gehören. Grundlagen. Der Vorgang bei der Aufstellung von Normalien jeder Art ist recht sehr verwickelt, er ist an bestimmte, in seinem eigenen Wesen liegende Grenzen gebunden und birgt mancherlei Gefahren in sich, die der eigenen Absicht des Normalisierens selbst entgegen zu wirken vermögen und deshalb bei jedem Versuch einer Normalisierung ganz besonders im Auge zu behalten sind. Bei der Vornahme einer Normalisierung können zwei grundsätzlich verschiedene Wege beschritten werden. Der häufigste ist der, daß sich im Laufe der Zeit in irgend einem Betrieb oder einem Fachgebiet unter den ganz willkürlich und zufällig einmal gewählten Formen eine bestimmte Anzahl immer wiederholt, weil eben kein Grund vorliegt, die vorhandene und „bewährte“ Form zu verlassen. Wenn das Gußmodell für ein Handrad einmal mit 317 mm ø ausgeführt ist, so ist ja für die allermeisten Fälle ganz gleichgiltig, ob ein neu herzustellendes Rad gerade 300 mm oder 320 mm ø hat; so wird naturgemäß das bereits vorhandene Modell gewählt, vorausgesetzt allerdings, daß der entwerfende Techniker überhaupt Kenntnis von seinem Vorhandensein hat. Es wäre zwecklos, daneben Handräder mit wenig abweichenden Durchmessern herzustellen, und erst wenn ein wirkliches Bedürfnis für eine größere Abweichung vorliegt, wird der Konstrukteur ein neues Modell schaffen, nachdem er sich überzeugt hat, ob nicht in seinem Betriebe bereits ein größeres Modell vorhanden ist, das seinem Zwecke ebenfalls dienen kann. Ja, er wird sich, wenn die Frage öfters an ihn herantritt, eine Liste der vorhandenen Modelle zusammenstellen, nach der er seine Auswahl treffen kann Eine „Normalientafel“ ist damit entstanden. Sie ist gekennzeichnet dadurch, daß die einzelnen Glieder der Reihe durch Zufall entstanden sind, daß ihre Abmessungen untereinander keinen Zusammenhang haben und daß die Reihe lückenhaft sein wird, indem die Abstände in den Abmessungen der einzelnen Glieder bald größer, bald kleiner sein werden. Da bedeutet es dann schon einen erheblichen Schritt vorwärts, wenn bei der Herstellung einer neuen Form angestrebt wird, sie so in die Reihe der bereits vorhandenen einzupassen, daß sie wirklich eine Lücke ausfüllt, daß also, um beim Beispiel der Handräder zu bleiben, zwichen 300 und 400 nun nicht etwa 210 oder 390 eingeschoben, sondern etwa 350 gewählt wird. Der vorausschauende Konstrukteur wird in seiner Normalientafel bestimmte Größen, die ihm zur planmäßigen Vervollständigung seiner Reihe noch fehlen, im voraus festlegen und im Bedarfsfalle eben diese festgelegten Größen, aber auch nur diese, ausführen. Er wird ferner auch bestrebt sein, von zwei durch den Zufall des Gewordenen besonders nahe und überflüssig nahe zusammenliegenden Formen der Reihe die eine als entbehrlich allmählich auszumerzen und durch die andere zu ersetzen, und zwar wird er natürlich die bestehen lassen, die besser in den Aufbau, in das Größengesetz seiner Reihe hineinpaßt. Ja, es kann so weit kommen, daß Formen, gegen die an sich nichts einzuwenden wäre, verlassen werden, um eben das Gesetz der Reihe einzuhalten oder genauer zum Ausdruck zu bringen. Rücksichten der Herstellung und auch der Schönheit können dabei mitsprechen. Kurz, der Weg dieser ersten und allgemeinsten Art der Normalisierung ist der Aufbau auf dem Gewordenen, die Beibehaltung willkürlich entwickelter Formen, die bestenfalls nach methodischen Grundsätzen geordnet, auch gesichtet und ergänzt werden. Wenn auch häufig auf dem Bisherigen fußend, so steht doch in einem gewissen grundsätzlichen Gegensatz dazu das andere mögliche Verfahren, nämlich die Festlegung der einzelnen Formen von vorn herein vor der Ausführung auf Grund einer vorausschauenden, systematisch aufbauenden Ueberlegung. Man wird namentlich dann, wenn es gilt, ein neues Gebiet auszubauen, im voraus die einzelnen Möglichkeiten überdenken und die erforderlichen Formen in Reihen ordnendie irgend eine Gesetzmäßigkeit des Baues von vornherein erhalten werden. Es soll damit eben der zufälligen Entstehung plan- und gesetzloser Formen vorgebeugt werden. Und hier entsteht nun jedesmal die weitere grundsätzlich bedeutungsvolle Frage: Ist schon irgend ein Anhalt vorhanden für diese Gesetzmäßigkeit, ja auch nur für die Ausgestaltung einer oder mehrerer Einzelformen, um die dann die ganze Reihe herumkristallisiert werden kann. In sehr vielen Fällen werden solche Anhaltspunkte bestehen, meistens in der Art, daß in dem betreffenden Gebiet schon irgend welche vereinzelte Ausführungen da sind, die aber noch zu sehr zerstreut sind, als daß man eine vollständige Normalisierung auf diesem Gerippe aufbauen könnte. Es wird sich dann also fragen, was von diesem Vorhandenen ist brauchbar und was ist wichtig genug, um darauf weiter zu bauen, daran anzuschließen, oder aber ist etwa alles Vorhandene aus grundsätzlichen Ueberlegungen nicht geeignet für den Ausbau zu einer systematischen Reihe, so daß das Vorhandene verlassen werden muß, um Geeigneteres an seine Stelle zu setzen. Dieser Fall könnte zum Beispiel eintreten, wenn zu einem bisher nur in einer Größe hergestellten Gegenstand, der fortan in einer fortlaufenden Reihe verschiedener Größen erzeugt werden soll, ein Werkzeug, etwa für eine Bohrung, in Zollmaß vorhanden ist, während die neue Reihenherstellung naturgemäß auf Millimetermaß eingerichtet werden muß. Bisweilen wird der Versuch, sich an Vorhandenes anzulehnen, zu keinem Ziel führen, weil eben noch nichts Benutzbares vorhanden ist; sehr viel häufiger noch wird das Ergebnis unbefriedigend sein, weil das Vorhandene sich in keine folgerecht zusammenhängende Form bringen lassen will. In diesen Fällen bleibt dem Organisator einer Normalisierung nichts anderes übrig, als durchaus von Anfang an mit der Form auch das System der Reihe von sich aus festzulegen; die edelste aber auch verantwortungsvollste Normalisierungstätigkeit. Hier kommt es jetzt darauf an, von Anfang an alle Möglichkeiten zu überblicken, namentlich auch die einer zukünftigen Entwicklung, und zugleich die Forderungen möglichst restloser Zweckmäßigkeit mit denen der Folgerichtigkeit, der Gesetzmäßigkeit zu vereinigen. Vor allem aber müssen die Anforderungen verschiedener Gebiete, auch solcher, die abseits vom eigenen Acker liegen, berücksichtigt werden, damit die aufzustellenden Normen einen möglichst weiten Wirkungsbereich erlangen und damit nicht auf verwandten oder Nachbargebieten alsbald dieselbe Sache von neuem normalisiert – und dann natürlich in anderem Sinne und anderer Form normalisiert werden muß, weil die Normen des einen Gebietes auf das andere nicht übertragen werden können. Gerade diese Rücksichtnahme auf andere Gebiete ist von tief einschneidender Bedeutung und gerade hierin ist leider bei vielen Normalisierungen häufig gesündigt worden. Freilich setzt sie außer dem guten Willen und dem Darandenken nicht nur eine weitreichende Kenntnis des Organisators und eine Anpassungsfähigkeit an die Eigenart fremder Betriebe voraus, sondern sie erschwert durch den Widerspruch der einzelnen Forderungen gegeneinander häufig die Arbeit auf einem Gebiet so sehr, daß man schließlich dazu geführt wird, die Normalisierung auf ein Einzelgebiet zu beschränken, ohne Rücksicht auf die Forderungen der Nachbarn. Auch das bedeutet ja in vielen Fällen schon einen Fortschritt, wenn wenigstens auf einem Gebiet Ordnung geschaffen wird, wenn schon das Durcheinander umher einstweilen bestehen bleiben muß; das gute Beispiel kann unter Umständen doch auch dorthin wirken. Die Vielheit der von verschiedenen Seiten gestellten Anforderungen bildet immer eine. Hauptschwierigkeit für jede Normalisierung. Jede Stelle, die von einer Normalisierung erfaßt werden soll, meint gemeiniglich, von den durch die Gewohnheit geheiligten Formen nicht abgehen zu können, nichts davon aufgeben zu dürfen. Eine Vorausfestlegung von Formen, die dann bei eintretendem Bedarf verwendet werden müssen, ohne die Wahl kleinerer Abweichungen zu haben, scheint vielen immer wieder unmöglich. Je größer das Gebiet ist, das umfaßt werden soll, desto größer werden diese Schwierigkeiten. Grenzen. Um in der Parteien Haß und Gunst nun überhaupt einen gangbaren Mittelweg zu finden, wird man häufig darauf verzichten müssen, überhaupt auf die Stimme des Einzelnen zu hören, denn wo der Eine das alleinige Heil sieht, wo der Eine unbedingt nur die Form zulassen zu können meint, die gerade in seinen Kram paßt, findet zweifellos irgend ein anderer, daß aus zwingenden Gründen gerade diese Form gänzlich unbrauchbar sei und nur die von ihm mit ebenso zwingenden Gründen verteidigte die alleinige Daseinsberechtigung habe. Niemand wird für die Ewigkeit normalisieren wollen, aber die Aufstellung einer Normalreihe hat doch nur Sinn, wenn sie für eine recht große Zeitspanne gedacht ist. Der Wunsch nach Unbegrenztheit des Wirkungsbereichs und der Wirkungsdauer sollte an der Wiege jeder Normalisierung stehen. Und deshalb muß es vermieden werden, daß, nachdem die Reihe festgelegt ist, jederzeit oder auch nur jemals irgend jemand kommen kann und mit Gründen, deren Stichhaltigkeit zu denen der ersten Reihe in Vergleich gestellt werden kann, neue Formen nach einem anderen System als mehr berechtigt fordern. Eine zweckdienliche Begrenzung in der Wahl der Grundlagen ist also geboten. Es ist demnach zu fragen, durch welche Grenzen die Grundlagen für eine Normalisierung beschränkt sind, die nach Möglichkeit frei sein soll von Willkürlichkeiten einzelner, vielmehr auf Grundlagen aufgebaut werden, die allgemeine Anerkennung fordern dürfen mit Ausschluß aller Einzelstimmen. Solche Grundlagen sind dadurch zu gewinnen, daß man sich von vornherein klar wird über die Systeme unserer Ordnungsmethoden überhaupt. Wir haben heute gewisse bestimmte Wege zur Bewältigung gewisser Vorstellungsreihen, zur Ordnung und Sonderung vieler Dinge, die allgemein im täglichen Leben häufig und immer wieder der Ordnung bedürfen. Diese Wege unserer heutigen Kulturwelt weichen von denen älterer und auch gleichartiger. Kulturen bisweilen ab, sie sind aber für uns von so selbstverständlicher Bedeutung, daß wir uns eine Organisierung ohne sie überhaupt kaum mehr vorstellen können oder vielmehr als das Gegenteil der Organisierung empfinden würden. Es sind das unsere Zahlen- und Maßsysteme, und wenn es auch durchaus selbstverständlich klingt, so muß doch mit allem Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß bei jeder Normalisierung, die Anspruch auf Dauerbestand machen will, auf die Eigentümlichkeiten unserer Zählweise und auf unsere allgemein anerkannten Maße Rücksicht genommen werden muß. Zunächst unser Zahlensystem. Nach dem ganzen Aufbau unserer Zahlenbegriffe und bei der Selbstverständlichkeit, mit der uns heute das Dezimalsystem vertraut ist, ist es uns gemeinhin sehr schwer vorstellbar, daß es Völker, Kulturen gegeben hat, die mit anderen Zahlsystemen gerechnet haben, wie zum Beispiel die Babylonier nach dem Sechzigersystem; gerade dem Techniker, der in seinem Beruf andauernd und viel mit Zahlen umzugehen hat, scheint es unbegreiflich, wie ein Volk wie das englische, das doch bis 1914 auch in den Kreis der Kulturvölker gerechnet werden konnte, in seinem Maß- und Geldsystem mit einer Zwölfereinteilung arbeiten kann. Und wenn auch nicht verkannt werden darf, daß schließlich auch das Dezimalsystem nur eine augenblicklich unserer Vorstellungsgewohnheit entsprechende Art der Anschauung, der Ordnungshilfe ist, die vielleicht durch noch rationellere Methoden übertroffen werden kann und wird, so wäre es doch unter den gegenwärtigen Umständen ganz sinnlos, irgend eine Größenanordnung nicht auf der Grundlage unseres gegenwärtigen Zahlensystems und mit Rücksicht auf das Dezimalsystem aufbauen zu wollen. Ebenso hat die Entwicklung unserer Kultur, d.h. des Kulturkreises, in dem wir nun einmal drinstecken und über den wir nur schwer hinaussehen können, zu einer ganz bestimmten Festlegung in bezug auf Maße geführt. Was seinerzeit die französische Meterkommission festgelegt hat, ist tatsächlich so sehr Allgemeingut der Menschheit geworden, daß auch das Außenstehen des Kulturvolkes England nichts daran hat ändern können. Auf dem Grunde der metrischen Normalien aber sind dann im Laufe der Zeit eine große Zahl wissenschaftlicher Maßsysteme und Meßverfahren aufgetaut worden, die Fundamente unserer ganzen wissenschaftlichen Maß- und Zahlenangaben sind darin verankert, so daß auch hier eine Abweichung für praktische Zwecke undenkbar erscheint. Und wenn wir uns auch darüber klar sind, daß die Meternorm eine eigentliche innere Berechtigung nicht hat, ja wenn wir weitergehend finden, daß auch an den Grundlagen des ganzen wissenschaftlichen Maß- und Gewichtssystems, des Zentimeter- Gramm- Sekundensystems, an mehr als einer Stelle aus theoretischen Ueberlegungen gerüttelt werden kann, so müssen wir uns doch sagen, daß mindestens gegenwärtig es ein totgeborener Gedanke wäre, sich aus diesem System heraus, sich daneben stellen zu wollen. Die beiden genannten Rücksichten, die Anpassung an das vorhandene Zahlensystem und die Einordnung in die wissenschaftlich gebräuchlichen Maßsysteme sind offenbar die hauptsächlichsten, nahezu selbstverständlichen Grenzen für die Grundlagen einer Normalisierung. Weitere Grundlagen werden sich von Fall zu Fall ergeben, häufig mit so sicherer Selbstverständlichkeit, daß ein Zweifel nicht möglich ist (wie zum Beispiel die Rechteckform für die Normalisierung von Papierformaten), andere so, daß sie auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen, aber doch bei verschiedenartiger Betrachtungsweise verschiedene Möglichkeiten zulassen. Hier die richtigen und ausschlaggebenden herauszusuchen ist die schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe des Normalisators. Gefahren. Damit kommen wir zu den Gefahren, die mit jeder Normalisierung verbunden sind. Nur allzuhäufig wird eine Norm oder gar eine Normenreihe aufgebaut, ohne daß alle Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Grenzen genügend durchdacht sind, etwas Unreifes wird zur Norm erhoben. Wenn dann im Laufe der Entwicklung die zugrunde liegenden Gedanken weiter ausreifen, so ist natürlich das Durchsetzen dieser reiferen Frucht sehr erschwert, weil ja bereits anderes als Norm festgelegt ist. Und das muß ja das Bestreben und der stets leitende Grundgedanke bei der Aufstellung und Benutzung von Normalien sein, daß sie so selten wie eben möglich geändert werden dürfen, weil sie ja sonst ihren Beruf als Normen verfehlen. Ganz besonders in bezug auf die Anwendungsmöglichkeit in benachbarten oder weiterab liegenden Sachgebieten zeigt sich sehr häufig die mangelnde Reife der zum Gesetz erhobenen Norm: Erschwernis auf dieser Seite steht dann der beabsichtigten und auf der anderen Seite wohl auch erzielten Energieersparnis gegenüber. Ganz besonders bedauerlich ist es, wenn, was auch nicht eben selten geschieht, in zwei verschiedenen Gebieten gleichzeitig normalisiert und in dem einen das zur unumstößlichen Norm erhoben wird, was im andern grundsätzlich verworfen wird. Gegensätze können hier entstehen und Fehden, die den Glaubenskämpfen des Mittelalters an Erbitterung nicht nachstehen. Die bedauerliche Erscheinung, daß Unreifes zur Norm erhoben wird, und die dadurch entstehenden Schäden werden sich im allgemeinen zunächst auf begrenzten Sondergebieten bemerkbar machen, so daß ihre Wirkung Hemmungen des Gesamtfortschritts nur an einzelnen Stellen zeitigt. Je größer aber das Sachgebiet ist, das ein Normensystem sich erobert, desto größer ist auch die Wirkung auf den Gesamtfortschritt der Kultur und desto größer auch die Gefahr, daß dieser geschädigt wird durch ein Normalisieren im falschen Sinne. Die großen Normenkomplexe, die wir bereits besitzen, gewinnen immer größere Wucht durch Angliederung weiterer Sachgebiete; wenn einer diese Komplexe auf falschen oder zweckwidrigen Voraussetzungen beruht, so wird natürlich durch Anwachsen weiterer Normengebiete an denselben Stamm die etwaige Beseitigung des falschen Gedankens immer mehr erschwert. Je weiter sich das Einflußgebiet einer Norm – ob richtig, ob falsch – Anerkennung schafft, um so schwerer ist es wieder aus der Welt zu schaffen. Nun kann wohl keines unserer Normensysteme, auch nicht die verbreitetsten, auch die Zahlen- und Maßsysteme nicht, einen Anspruch auf restlose Folgerichtigkeit machen, denn als Werkzeuge des Denkens sind auch diese Hilfsmittel entwicklungsfähig, und wie oben bereits ausgeführt wurde, ist wohl vorstellbar, daß einst selbst an die Stelle unserer allergebräuchlichsten Ordnungsmittel andere, folgerechtere Systeme treten werden. Man denke zum Beispiel an unser Winkelmeßsystem oder an unsere Zeitmessung. Trotzdem wäre es natürlich falsch, abgeleitete oder angelehnte Normensysteme nun nicht auf die bestehenden Grundpfeiler der Normierung aufzubauen, selbst wenn deren Fehler erkannt sind. Selbst wenn wir uns etwa darüber klar werden, daß zum Beispiel das Zentimeter, auf dem ein sehr großer Teil unserer ganzen wissenschaftlichen Maßlehre ruht, infolge eines bis dahin nicht genügend beachteten Gesetzes in unserer Zahlenhandhabung denkrichtig nicht als Grundeinheit zu benutzen wäre, sondern eigentlich entweder dem Meter oder dem Millimeter zu weichen hätteW. Porstmann, Normenlehre, Leipzig 1917., so wäre es doch verfehlt, wenn man nun irgend eine neu aufzustellende Normenreihe, die gleichwertig zwischen anderen wesensgleichen stehen soll, aus diesem Grunde nicht auf dem Zentimeter aufbauen wollte. Das eben sind Grenzen für die gegenwärtige Normalisierung, daß wir über gewisse, allgemein anerkannte oder doch allgemein gebrauchte Hauptnormen nicht hinweggehen dürfen. Erst wenn man einmal daran gehen sollte, die Grundlagen der großen Systeme umzugestalten, dann würden die kleineren angeschlossenen, gewissermaßen sekundären Normenreihen automatisch mitgehen. Bis dahin aber liegt es im Sinne der steten, gleichmäßigen Fortentwicklung, daß sich zunächst ohne Nachprüfung der inneren Berechtigung die sekundären Einheiten an die Grundkristalle angliedern, damit sich wenige übersichtliche Komplexe herauskristallisieren, deren Wesensart und mit ihr ihre Daseinsberechtigung dann um so übersichtlicher geprüft werden kann. Nur in ganz seltenen Fällen wird man sich bei der Aufstellung neuer Normen auf den Boden vollkommener Voraussetzungslosigkeit stellen können. Fast immer wird der Normalisator eine ganze Anzahl von verschiedenen Bedingungen auf ihre mehr oder minder grundsätzliche Bedeutung zu prüfen haben. Die endgiltige Entscheidung wird sich immer auf einer längeren Ueberlegung aufbauen, auf dem Anhören und Durchdenken von Gründen und Gegengründen. Für die kritische Beurteilung einer Normenreihe ist die Kenntnis dieser Gedankengänge, die zu ihrer Aufstellung geführt haben, natürlich von äußerster Wichtigkeit, und namentlich dann, wenn Zweifel an ihrer Daseinsberechtigung auftauchen, sollte es, bevor diese ausgesprochen werden, selbstverständliche Pflicht sein, die Berechtigung an Hand der Ueberlegungen zu prüfen, die zu diesem Dasein führten. Aus diesem Grunde wäre es sehr zu begrüßen, wenn bei allen Normalisierungen größeren Umfangs, sei es nun, daß sie von einzelnen Industriewerken, Vereinen oder Behörden vorgenommen werden, nicht nur die Ergebnisse, sondern möglichst ausführlich auch die bestimmenden Erwägungen veröffentlicht würden, die zur Festlegung gerade dieser Normen und vielleicht zur Verwerfung anderer Vorschläge geführt haben. Man veröffentlicht ja doch auch bei Gesetzen diese bestimmenden Grundlagen und Vorarbeiten. Bei der weitreichenden Bedeutung, die zum Beispiel die gegenwärtigen Normalisierungsbestrebungen des Vereines deutscher Ingenieure unzweifelhaft erlangen werden, ist eine möglichst ausführliche Veröffentlichung nicht nur der Normen selbst, sondern auch der Ausschußverhandlungen dringend zu wünschen, sei es nun in der Zeitschrift oder in einer besonderen Druckschrift. Die vom Verein herausgegebenen „Forschungsarbeiten auf dem Gebiete des Ingenieurwesens“ wären zum Beispiel ein durchaus geeigneter Ort dafür, da eine gründliche, durchdringende Erfassung der Grundlagen, Grenzen und Gefahren der Normalisierung ganz zweifellos eine erhebliche Forschungsarbeit auf dem Gebiete des Ingenieurwesens erfordert. Zusammenfassung. Für die Aufstellung von Normalien kommen zwei grundsätzlich verschiedene Wege in Betracht: Die Benutzung zufällig entstandener Formen, die geordnet, gesichtet und ergänzt werden, oder die Festlegung von vornherein auf Grund sachdienlicher Ueberlegung. Die Grenzen für eine voraussetzungsfreie Normalisierung liegen im richtigen Anschluß an die allgemein gebräuchlichen Zahlen- und Maßsysteme sowie in der Rücksicht, auf benachbarte Sachgebiete. Jede Normalisierung zeitigt Gefahren durch die Möglichkeit, daß Unreifes zur Norm erhoben wird; die gedeihliche Fortentwicklung zum Ausgereiften kann dadurch erschwert werden. Es ist wünschenswert, daß bei Normalisierungen größerer Bedeutung die zugrunde liegenden Gedankengänge veröffentlicht werden.