Titel: Selbsttätige Kupplung für Eisenbahnfahrzeuge.
Autor: Castner
Fundstelle: Band 339, Jahrgang 1924, S. 178
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Selbsttätige Kupplung für Eisenbahnfahrzeuge. Von Dipl.-Ing. Castner. CASTNER, Selbsttätige Kupplung für Eisenbahnfahrzeuge. In allen Ländern, die über ein Eisenbahnnetz von einigermaßen größerem Umfange und mit einigermaßen lebhaftem Verkehr verfügen, spielt die Kupplungsfrage seit langen Jahren eine immer größere Rolle und zwar nicht nur in technischer, sondern vor allem in wirtschaftlicher und sozialer Beziehung, In technischer Beziehung, weil es heute wohl kaum noch jemand geben dürfte, der da behauptet, daß die von; Hand zu bedienende, bei uns, wie in fast allen Ländern, außer Nordamerika, allgemein eingeführte Schraubenkupplung den höchsten Grad der technischen Vollkommenheit darstellt, in wirtschaftlicher Beziehung, weil das Bestreben der Bahnverwaltungen darauf gerichtet sein muß, die Rangierzeit, die im Fahrplan der Güterzüge einen großen Raum einnimmt, der zum größten Teile ausgefüllt wird durch das Kuppeln bezw. Entkuppeln der Wagen, nach Möglichkeit abzukürzen und auf diese Weise einen schnelleren Wagenumlauf und somit eine bessere wirtschaftlichere Ausnutzung des vorhandenen Wagenparks zu erzielen, was aber nur durch weitestgehende Einführung einer selbsttätigen Kupplung erreichbar ist, und endlich in sozialer Beziehung, weil es vornehmste Pflicht der Eisenbahnverwaltung ist, für das Wohl und Wehe ihrer Angestellten ständig besorgt zu sein und die mit dem Eisenbahnbetriebe, in erhöhtem Maße mit dem Rangierdienste, verbundenen Gefahren nach Möglichkeit abzuwenden oder doch mindestens auf das denkbar geringste Maß zu beschränken und zu mildern, wozu der Fortfall der beiden Seitenpuffer und die Betätigung der wenigen an einer selbsttätigen Kupplung auszuführenden Handgriffe von einer außerhalb der Wagenreihe liegenden Stelle aus die Haupterfordernisse bilden. Alle diese Erwägungen haben dazu geführt, daß man vor reichlich 30 Jahren von verschiedenen Seiten größere Versuche mit selbsttätigen Kupplungen für Eisenbahnfahrzeuge anstellte, die auch insofern bereits von einem sehr beachtenswerten Erfolge gekrönt wurden, als sich in Amerika durch Gesetz die Einführung einer selbsttätigen Kupplung zwangsweise durchsetzte. Wesentlich anders liegen die Verhältnisse in den übrigen Eisenbahnländern, insbesondere in Europa, wo nach mehrjähriger Unterbrechung durch den Weltkrieg die Versuche in den letzten Jahren, allerdings auch in erheblich größerem Umfange, wieder aufgenommen wurden, ohne indes bis jetzt irgendwo zu einem endgültigen Abschluß gebracht worden zu sein. In Deutschland zwang die durch den langen Krieg arg in Mitleidenschaft gezogene wirtschaftliche Lage der Eisenbahnen, die gewaltige Beschneidung des Maschinen- und Wagenparkes durch den Waffenstillstandsund den nachfolgenden Versailler-Vertrag und die gesamte Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Landes und seiner Bewohner zu einer vollständigen Umgestaltung und Neuordnung des Eisenbahnbetriebes auf wirtschaftlicher Grundlage. Eine der hierzu notwendigen Maßnahmen ist die Einführung der Großgüterwagen mit 50 t Tragfähigkeit, die zur Bewältigung des regelmäßig wiederkehrenden Massenverkehrs an sog. Schüttgütern aller Art, wie Stein- und Braunkohlen, Koks, Erzen, Kies und dergl. dienen sollen, Bei den in Verbindung mit dem Entwurf dieser Fahrzeuge angestellten Untersuchungen hat sich nun herausgestellt, daß die alte Schraubenkupplung selbst in entsprechend verstärkter Ausführung den Anforderungen nicht mehr würde genügen können, zumal ihre Handhabung beim Kuppeln durch nur einen Mann wegen unförmlicher Abmessungen und hohen Gewichtes nicht mehr angängig sein und damit der ganze Rangierbetrieb erschwert und verzögert werden würde. Eine Beseitigung dieser Uebelstände ist nur zu erwarten von der Einführung einer selbsttätigen Kupplung. Hiermit ist die ganze Kupplungsfrage in ein neues Stadium getreten, in dem sie mit der größten Energie und Beschleunigung behandelt und mit aller Entschiedenheit auf eine schnelle Entscheidung hingedrängt wird. Unabhängig von den Versuchen der früheren Staatsbahnen der jetzigen deutschen Reichsbahn haben vor etwa 1 ½ Jahrzehnten eine Anzahl deutscher Privatbahnen selbständig Versuche nach der gleichen Richtung hin unternommen und diese auch in verhältnismäßig kurzer Zeit zum Abschluß gebracht, der zur Einführung der von dem deutschen Ingenieur Scharfenberg erfundenen und nach ihn benannten selbsttätigen Kupplung führte. Diese hat sich im Laufe der seitdem verflossenen 15 Jahre in allen Lagen und nach jeder Richtung hin auf das Vorzüglichste bewährt und wegen ihrer hervorragenden Eigenschaften so manchem Menschen – Fahrgast wie Eisenbahner – Leben und Gesundheit erhalten und die Bahnverwaltungen vor Schaden aller Art bewahrt. Bei den augenblicklich auf der deutschen Reichsbahn in größerem Umfange und in geschlossenen Zügen stattfindenden Versuchen stehen zwei verschiedene Systeme von selbsttätigen Kupplungen in engstem Wettbewerb miteinander: die amerikanische Willison-Kupplung und die eben erwähnte deutsche Scharfenberg-Kupplung. Erstere ist eine Klauenkupplung, die als reine Zugkupplung für Personenzüge, die bekanntlich in der Regel wochen-, ja monatelang in derselben Zusammenstellung laufen, und bei denen eine Beanspruchung auf Stoß nur in verhältnismäßig seltenen Fällen vorkommt, ganz gut geeignet sein mag. Dies beweist ja auch ihre Verwendung als sog. Kurzkupplung am Betriebe der Berliner Stadt-, Ring- und Vorortbahnen. Ganz anders dagegen liegen die Verhältnisse im Verkehr der Güterzüge, deren Zusammenstellung auf jeder Haltestelle eine Veränderung erfährt und bei denen während des Rangierens, besonders beim Abstoßen, die Kupplungen in höchstem Maße auf Stoß beansprucht werden. Hier hat die Willison-Kupplung bis jetzt in ihrer bisherigen Ausführung mehr oder weniger versagt, jedenfalls den an eine unbedingt betriebssicher und in jeder Beziehung einwandfrei arbeitende selbsttätige Kupplung zu stellenden Anforderungen keineswegs genügt. Im Gegensatz dazu waren die in gleichzeitig stattfindenden Parallelversuchen mit der Scharfenbergkupplung erzielten Ergebnisse denkbar günstig, zumal ein Versagen in keinem einzigen Falle zu verzeichnen war. Es kann das auch weiter nicht verwundern; denn dieses deutsche Erzeugnis wurde, aufbauend auf den vieljährigen, im praktischen Betriebe z. T. unter den widrigsten Verhältnissen gesammelten Erfahrungen im Laufe der Zeit und noch bis in die letzten Monate und Wochen hinein so weit verbessert und vervollkommnet, daß man heute mit ruhigem Gewissen von ihm behaupten kann, daß es im gegenwärtigen Augenblick und in jeder Beziehung den höchsten Grad der Vollkommenheit darstellt. Der Ausfall der Entscheidung in dieser nun bald 30 Jahre die Gemüter erregenden überaus bedeutungsvollen Kupplungsfrage dürfte nach alledem kaum mehr zweifelhaft sein. Es dürfte sich daher wohl verlohnen, im folgenden die Bauart und die, Arbeitsweise dieser Kupplung etwas genauer zu betrachten. Die Scharfenberg-Kupplung gehört, wie bereits erwähnt, zu den selbsttätigen starren Mittelpufferkupplungen. Im Gegensatz zu ähnlichen Kupplungen anderer Systeme arbeitet sie nicht mit Klauen, sondern mit Bügeln. Jede Kupplung besteht aus 2 vollkommen symmetrischen Hälften, von denen an jedem Wagenende eine angebracht ist. Diese werden, da die durchgehende Zugstange als überflüssig in Fortfall kommen kann, an dem im Untergestell eingebauten Mittellängsträger und kugelgelenkartig drehbar befestiget. Durch diese Anordnung wird auf der einen Seite ein sehr ruhiges und sanftes Durchfahren von Gleiskrümmungen erzielt, während andererseits die sonst steife Kupplung den nickenden Bewegungen der fahrenden Wagen zu folgen vermag. Es wird ohne weiteres einleuchten, daß auf diese Weise ein außerordentlich ruhiger Lauf des ganzen Zuges erzielt wird. Der Mittellängsträger hat wiederum die Aufgabe, alle während der Fahrt, beim Rangieren oder beim Zusammenprallen auftretenden Stöße aufzufangen und so vom übrigen Untergestell wie auch vom Wagenkasten abzulenken. Jede Hälfte der Scharfenberg-Kupplung besteht aus einem kräftigen Stahlguß-Kuppelkopfgehäuse, dessen eine Hälfte trichterförmig und dessen andere kegelförmig ausgebildet ist und zwar derart, daß beim Zusammenführen zweier Kupplungshälften stets ein Kegel und ein Trichter sich gegenüberstehen. In jedem Gehäuse befindet sich ein um einen Bolzen drehbar gelagertes scheibenförmiges Herzstück a (Abb. 1), das einen doppelarmigen Hebel mit gleichen Hebellängen darstellt. An dem einen Hebelende greift, durch einen Gelenkbolzen befestigt, der Kuppelbügel b an, während das andere Hebelende als Hakenmaul c ausgebildet ist. Das Festhalten des Herzstückes in der Kuppelstellung wird durch eine kräftige Rückstellfeder bewirkt. Man sieht daraus, daß die ganze Einrichtung der nur aus wenigen Teilen bestehenden Kupplung denkbar einfach ist, was für den Betrieb die größte Bedeutung hat. Textabbildung Bd. 339, S. 178 Abb. 1. Textabbildung Bd. 339, S. 178 Abb. 2. Der Vorgang beim Kuppeln ist gleichfalls äußerst einfach. Er spielt sich ohne jegliches Dazutun seitens des Rangierpersonals in kürzester Zeit und vollkommen selbsttätig ab, wobei es auch gleichgültig ist, ob die Wagen auf der geraden Strecke oder in einer Gleiskrümmung sich befinden. Werden zwei Kupplungshälften einander entgegengeführt, so berühren zunächst die beiden aus den Kuppelkopfgehäusen hervorstehendem Bügel den äußeren Rand des gegenüberliegenden Herzstückes a (Abb. 1). Bei der weiteren Vorwärtsbewegung gleiten sie auf diesem entlang und setzen dadurch gleichzeitig ihr eigenes Herzstück in Umdrehung (Abb. 2). Diese Bewegung wird solange fortgesetzt, Ms das Hakenmaul c vor die Trichteröffnung zu Hegen kommt, so daß der Bügel hineinfallen kann. In diesem Augenblick schnellt das Herzstück unter Einwirkung der Rückstellfeder, die während der Umdrehung des Herzstückes gespannt wurde, zurück, und die Kupplung ist hergestellt (Abb. 3) und zwar, da alle Teile doppelt vorhanden sind, mit doppelter Sicherheit. Eine besondere Verriegelung in dieser Stellung ist nicht notwendig; denn infolge der vollkommenen Symmetrie beider Kupplungshälften wirken an jedem Teile stets gleiche Kräfte, so daß sich alle Teile in ständigem Gleichgewichte befinden. Aus diesem Grunde ist es auch ausgeschlossen, daß sich etwa der eine Bügel von selbst aus seinem Hakenmaule löst. Ebenso wird ein ungewolltes Weiterdrehen des Herzstückes unter Einwirkung der Rückstellfeder sicher verhindert. Soll eine Kupplung gelöst werden, so ist es nur nötig, von außen her, d.h. also, ohne daß ein Rangierer zwischen die Wagenreihe zu treten braucht, das eine der beiden Herzstücke so weit nach außen zurückzudrehen, daß die beiden Bügel aus ihrer Umklammerung in den Hakenmäulern befreit werden und aus diesen herausspringen können. Ist dies geschehen, so schnellen die Herzstücke von selbst wieder in die Kuppelstellung zurück. Textabbildung Bd. 339, S. 179 Abb. 3. Sehr häufig ist bekanntlich im Rangierbetriebe das Abstoßen von Wagen. Dies wird durch eine im Kuppelmechanismus vorhandene Rangiersperre ermöglicht, die so wirkt, daß die beiden Kupplungshälften nach dem Abstoßen sofort wieder kuppelbereit sind. Bei den unzähligen Rangierversuchen, die im Laufe der Jahre mit Scharfenbergkupplung angestellt wurden und bei den zahllosen Rangierfahrten, welche die Privatbahnen in 15jährigem Betriebe mit ihr unternahmen, hat es sich immer wieder herausgestellt, daß sie nicht nur eine vorzügliche Zugkupplung ist, sondern daß sie sich auch als Stoßkupplung hervorragend eignet. Dies ist in erster Linie ihrer Steifheit und ihrer elastischen Befestigung am Wagenuntergestell zu verdanken, wodurch der ganze Zug die eigenartige Beschaffenheit einer Gelenkkette annimmt, um ein naheliegendes Beispiel heranzuziehen. Aus demselben Grunde wird auch bei etwaigen Zugzusammenstößen das so gefährliche und mit Recht so gefürchtete Aufklettern bezw. Ineinanderschieben der Wagen sicher verhindert und somit Verlusten an Menschen und Material auf die einfachste und denkbar sicherste und zuverlässigste Weise vorgebeugt. Die Scharfenberg-Kupplung dient in diesem Falle also als Schutz und Abwehrmittel im Interesse der Fahrgäste, der Besitzer der beförderten Güter und der Bahnverwaltung. Der Einbau der Kupplung ist einfach, da das Befestigen an dem Mittellängsträger mit keinen besonderen Schwierigkeiten verbunden ist. Da es unmöglich ist, an den Hunderttausenden von Güter-, Personen- und Spezialwagen die vorhandenen Kupplungen mit einem Schlage auszuwechseln, wird in der ersten Zeit häufig sich die Notwendigkeit herausstellen, Züge aus Wagen zusammenzustellen, die mit Kupplungen verschiedener Systeme ausgerüstet sind. Dies wird dadurch ermöglicht, daß an der fertig eingebauten Scharfenberg-Kupplung eine einfache Hiliskupplung (Bügel mit Schraubenspindel) angebracht wird, die nach Beendigung der Uebergangszeit ohne weiteres wieder entfernt werden kann. Bemerkenswert ist auch, daß die Scharfenberg-Kupplung auch so eingerichtet werden kann, daß gleichzeitig mit dem Kuppeln bezw. Entkuppeln der Wagen durch den ganzen Zug hindurchgehende Leitungen verbunden bezw. getrennt werden können. Zu diesem gehört insbesondere die Bremsluftleitung. Dies bedeutet wiederum eine erhebliche Zeitersparnis, da die Bremsleitung bisher stets besonders behandelt werden mußte. Ein Verschleiß der Kupplung oder einzelner ihrer Teile kommt kaum in Frage, was einmal auf die Starrheit der Konstruktion, durch die ein Gegeneinanderarbeiten der einzelnen Teile während der Fahrt auf das denkbar geringste Mindestmaß beschränkt wird, und ferner auf die kräftige und einfache Ausführung aller Bestandteile zurückgeführt ist. In alle dem Vorhergesagten dürfte zur Genüge erläutert sein, daß durch die Einführung der Scharfenberg-Kupplung bei sämtlichen auf der deutschen Reichsbahn laufenden Fahrzeugen – hieran muß schon aus Gründen der Einheitlichkeit unbedingt festgehalten werden – große Vorteile in technischer, wirtschaftlicher und sozialer Beziehung erreicht werden, durch welche die Kosten der Veränderung und die Unbequemlichkeiten der Uebergangszeit mehr als reichlich aufgewogen werden.