Titel: [Kleinere Mittheilungen.]
Fundstelle: Band 320, Jahrgang 1905, S. 688
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[Kleinere Mittheilungen.] [Kleinere Mittheilungen.] Bücherschau. Die Steuerungen der Dampfmaschinen. Von Carl Leist. Zweite, sehr vermehrte und umgearbeitete Auflage. Berlin, 1905. Julius Springer. Man könnte meinen, dass bei dem industriellen Interesse, welches die Dampfturbine auf sich gelenkt hat, die Kolbendampfmaschine nunmehr ihre dominierende Stellung allmählich an ihre neue Nebenbuhlerin verlieren müsste. Wenn sich die kreisende Dampfmaschine dreier Hauptvorzüge rühmen darf, nämlich der in sich vollkommenen Ausbalanzierung, des Wegfalls gleitender Flächen und damit der Möglichkeit hoher Dampfüberhitzung und grosser Drehzahlen, wie sie besonders die Elektrotechnik erfordert, so sind einige schwerwiegende Nachteile gegenüber der Dampfmaschine mit Kurbelbetrieb auch nicht zu übersehen. Die Stellung der Leit- und Laufraddüsen kann nur der maximalen Dauerleistung ökonomisch günstig angepasst werden; die Frage der Bewegungsumkehrbarkeit ist bis jetzt noch durchaus nicht befriedigend gelöst, was die durchschlagende Verwendung der Dampfturbine als Schiffsmaschine bis jetzt noch wenig erhoffen lässt; auch fehlt es ihr an der raschen Entwicklung grosser Drehmomente, die für die Beherrschbarkeit der Schiffsbewegungen so ungemein wichtig ist. Insbesondere im Schiffsmaschinenbau herrscht auf dem Gebiete der Steuerungen noch eine zu grosse Anhänglichkeit am Ueberlieferten; vielleicht bringt es der Konkurrenzkampf mit der Turbine zuwege, dass die im Landdampfmaschinenbau hochentwickelten Präzisionssteuerungen auch dort nach und nach Eingang finden. Bei solcher Lage des Dampfmaschinenbaues ist es durchaus gerechtfertigt und mit Freude zu begrüssen, dass das oben genannte Werk in zweiter, sehr vermehrter und umgearbeiteter Auflage unter Beibehaltung der Vorzüge der ersten erschienen ist. Der Umfang und Inhalt des Werkes gibt einen Begriff davon, dass der Dampfmaschinenbau durchaus keine einfache Sache ist, wenn einer seiner Zweige, wie es die Steuerungen sind, eine derartige reiche Entwicklung durchgemacht hat. Die Steuerung ist für den zünftigen Dampfmaschinenbauer immer das besonders Kennzeichnende an der Dampfmaschine; daraus folgt das emsige Streben der Mitbewerber nach Originalität, was die an sich sonst nicht verständliche grosse Zahl von Konstruktionen erklärt. Um ein allen neuzeitlichen Anforderungen entsprechendes Werk über Dampfmaschinensteuerungen schreiben zu können, müssen zwei Bedingungen erfüllt werden: erstens eine jahrelange emsige Arbeit des Verfassers, zweitens weites Entgegenkommen der Dampfmaschinenfabriken und der Spezialisten, die mitten in der Praxis stehen. Diesen beiden Voraussetzungen ist in der Tat vollständig Genüge getan, fast alle führenden Dampfmaschinenfirmen und tonangebenden Konstrukteure sind im Buche vertreten. Die Eigenartigkeit jedes einzelnen Steuerungsorgans kommt im Buche gut zum Ausdruck. Es herrschte vor nicht langer Zeit ein regelrechter Kampf ums Dasein zwischen den einzelnen Steuerungstypen. Die Aera des hohen Druckes, des Schnellaufs und darauffolgend die Aera der Ueberhitzung haben ungemein viel zur Klarstellung der Sondervorzüge jedes einzelnen Steuerorgans beigetragen. Im Landdampfmaschinenbau hat sich dabei das Doppel- und Mehrsitzventil als der lebensfähigste Dampfverteiler behauptet, während der Schiffsmaschinenbau noch am entlasteten Kolbenschieber und für die Niederdruckzylinder auch am entlasteten Flachschieber festhält. Die Schiffsmaschine kann sich aber im Wettkampf mit der Dampfturbine gezwungen sehen, sich die Fortschritte der Landmaschine auf dem Gebiete der Präzisionsventilsteuerungen unbeschadet ihrer Betriebssicherheit zunutze zu machen; denn der Werkstattechnik ist jetzt sozusagen nichts mehr unmöglich. Der ungemein reiche Stoff verlangt zu seiner Uebersichtlichkeit und Beherrschbarkeit eine sehr sorgfältige Gliederung und einen organischen Aufbau und hat es der Verfasser in glücklichem Masse verstanden, beiden Anforderungen gerecht zu werden, so dass sowohl der Anfänger, als auch der mitten in der schaffenden Praxis stehende Konstrukteur seine Rechnung findet. Daraus erklärt sich auch die in manchen Teilen breite Darstellung, die aber einer sogen. blutleeren erschöpfenden Kürze entschieden vorzuziehen ist, insbesondere mit Rücksicht auf die studierende Jugend. Hand in Hand damit geht eine klare, sorgfältige Ausdrucksweise und eine anmutende stylistische Toilette, Vorzüge, die wieder besonders dem Anfänger willkommen sein müssen. Was die Abbildungen anbetrifft, so kann deren Auswahl und Reinheit als mustergültig hingestellt werden. Dabei treten besonders die neuzeitlichen Ventilsteuerungen, sowohl die auslösenden als auch die zwangläufig mit Flachregler arbeitenden gebührend in den Vordergrund. Gefällige Formung des Maschinengestells, rationelle Anordnung der äusseren Steuerung bestimmen neben den Feinheiten in der Einzelausbildung die „mechanische Schönheit“ der Dampfmaschine. Es ist sehr zu begrüssen, dass nicht nur die rein kinematischen, sondern auch die dynamischen Verhältnisse der einzelnen Steuerungsarten ausführlich besprochen werden. Das Kräftespiel, wie es Radinger so fruchtbringend zuerst im Maschinenkurbeltrieb nachgewiesen hat, tritt in verjüngtem Masse auch in jedem Exzenter- und Daumenantrieb auf und trat dieser Umstand besonders bei grösseren Drehzahlen manchmal recht unangenehm in die Erscheinung. Neben den rein äusseren Kräften müssen eben auch die aus der Bewegung entspringenden Kräfte berücksichtigt werden; beide Kräftesorten vermischen sich zu den sogenannten Reaktionskräften, welche durch ihre Grösse und Richtungsänderung die Stärke der bewegten Glieder und den Druckwechsel in ihnen bestimmen. Auch die aus der Massenträgheit hervorgehende Stosswirkung ist in Betracht gezogen; endlich ist auch der Schieberreibung gedacht. Bekanntlich macht das Einstellen der Steuerungen dem Anfänger oft ziemliche Schwierigkeiten, während anderseits jeder geschulte Monteur in der Lage sein muss, den Viervierteltakt der Dampfverteilung irgend einer Steuerung, die ihm noch nicht begegnete, herauszufinden und sie richtig einzustellen. Alte Monteure erinnern sich ja noch der Zeiten, wie ihre Meister das Geheimnis der Schiebereinstellung streng hüteten, damit es ihnen ja kein anderer absehen möchte. Es ist daher im Interesse des Anfängers vollauf gerechtfertigt, wenn der Verfasser in einem besonderen Kapitel das Einstellen der verschiedenen Steuerungsarten systematisch behandelt. Neben den Steuerungen für einfache Umlaufmaschinen finden auch die für die verschiedenen Reversiermaschinen, wie Fördermaschinen, Schiffsmaschinen und Walzwerksmaschinen verwendeten Umsteuerungen eine ausführliche und sachgemässe Behandlung. Kulissensteuerungen, Lenkersteuerungen und die in letzter Zeit besonders für Fördermaschinen sich grosser Beliebtheit erfreuenden Nockensteuerungen werden genau beschrieben und in ihrer äusseren Anordnung sowie auch diagrammatisch erschöpfend erläutert. Der Verfasser bedient sich mit Recht des Reuleaux-Müllerschen Diagrammes, und wo grössere Uebersichtlichkeit erzielt wird, hin und wieder auch des Zeunerschen Diagrammes. Wenn man bedenkt, dass das Alphabet des graphischen Verfahrens nur aus drei Buchstaben besteht: aus der Strecke, dem Kreisbogen und dem Kurvenbogen, so sieht man im Vergleich mit dem umständlichen analytischen Wege so recht die Ueberlegenheit der geometrischen Darstellungsweise ein. Zeuner hat mit der erstmaligen Aufstellung seines Schieberdiagrammes eine denkökonomische Tat vollbracht. Der Verfasser beschränkt die Anwendung des Reuleaux-Müllerschen Diagrammes (vielleicht kurz als RM-Riss zu bezeichnen) nicht allein auf die Schiebersteuerungen, er dehnt es auch sinngemäss auf die Ventilsteuerungen aus; dabei wirkt die geschickte Herausschälung des sogenannten resultierenden Ersatzexzenters oft recht aufklärend bei der Nebeneinanderstellung der einzelnen Steuerungsvarianten. Dem Unterzeichneten sind beim Durchlesen des Buches einige Punkte aufgefallen, die vielleicht bei einer Neuauflage einer Berücksichtigung wert erscheinen. Zunächst erscheint das Drosselungsverhältnis oder die Abschlusspräzision insbesondere bei Schiebersteuerungen etwas zu knapp besprochen: es ist durchaus nicht nötig, dass hierfür die Schieberellipse verwendet wird, wenn man bedenkt, dass sich die theoretisch erforderlichen Kanaleröffnungen ebenso wie die Schieberwege durch Kreise darstellen lassen, so dass sich durch Aufsuchen gewisser Schnittpunkte mit den übrigen Diagrammlinien der Zeitpunkt und das Mass der Drosselung ergibt. Ferner vermisst der Unterzeichnete die aufklärende Nebeneinanderstellung von Entwurfdiagrammen und Indikatordiagrammen von ausgeführten Anlagen. Es muss doch ungemein lehrreich sein, das zu vergleichen, was der Konstrukteur anstrebte mit dem, was der Indikator schliesslich anzeigt, und zwar sowohl bei Einzylinder- wie bei Zweizylinder- und Dreizylindermaschinen. Unter richtiger Einschätzung der übrigen auf das Dampfdruckdiagramm Einfluss habenden Faktoren, wie Rohrführung, Mantel- und Aufnehmerheizung, Ueberhitzung, schädliche Räume usw. wird man auf diese Weise am ehesten die Vorteile und Nachteile der einzelnen Steuerungstypen feststellen können. Auf den Anfänger muss die Vielheit und der Reichtum der für die verschiedenen Steuerungstypen in Verwendung kommenden Mechanismen und Details entschieden verwirrend wirken; er wird sich fragen: wie lange wird es wohl dauern, bevor ich ein Buch mit 940 Seiten durchstudiert habe? Um ihm wieder Mut zu machen, wäre nichts angebrachter, als eine kurze systematische Zusammenfassung des ganzen Mechanismenheeres im Sinne der leider vielfach unterschätzten Reuleauxschen Kinematik; dabei wird sich eine kleine, leicht überschaubare Zahl von Grundgetrieben ergeben, die sich bei der Analyse jeder noch so scheinbar komplizierten Steuerung stets wiederfinden. Entlastung des Gedächtnisses und Verschärfung des Verständnisses wäre der Segen einer solchen kinematischen Auffassungsweise. Am Schlusse des Buches wäre ein kurzer historischer Abriss über die Entwicklung der einzelnen Steuerungstypen sehr am Platz; liegt doch in jedem Steuerungselement oft ein interessantes Stück industrieller Kulturgeschichte, indem zum Teil die Geschichte der Steuerungen zugleich die Geschichte der Dampfmaschine selbst ist. Dabei kann die Vorliebe der einzelnen Nationen für diese oder jene Steuerungsgattung zur Sprache kommen unter Prüfung der Frage, wie neben Zweckmässigkeit auch zugleich Schönheit in der Anordnung und den Einzelheiten erzielt werden kann. Auch dürften einige statistische Aufstellungen über die Ausführung der einzelnen Steuerungsarten in den verschiedenen Kulturländern von Nutzen sein. Im allgemeinen braucht der deutsche Dampfmaschinenbau (der österreichische und schweizerische inbegriffen) einen Vergleich mit den Leistungen der übrigen Kulturländer, wie Frankreich, England und Amerika, nicht zu fürchten; er hat mehr wie seine Nebenbuhler das Zweckmässige mit dem Schönen zu verbinden gewusst. Das Gleiche gilt nun auch für die Literatur; das Werk von Professor Leist erweist sich als ein äusserst nützliches und wertvolles Nachschlagebuch, weil es eine Frucht mehrjähriger, emsiger Arbeit und ein Inventar für sehr zahlreiche Erfahrungen bedeutender Fabriken und Konstrukteure ist. Werden bei einer eventuellen Neuauflage noch die vom Unterzeichneten oben geäusserten Wünsche erfüllt, so wird es wohl für absehbare Zeit ein ständiger Begleiter jedes Dampfmaschinenbauers werden. Carl Rudolf, Bochum.